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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von dem Ursprunge und Anfange der Kunst.
Cairo beschrieben werden, würde man nicht von ihren alten Figuren auf
die Beschaffenheit ihrer Körper in alten Zeiten schließen können, als welche
das Gegentheil von der heutigen scheinet gewesen zu seyn: es ist aber zu
merken, daß die Aegypter auch schon von den Alten als dicke fette Körper
beschrieben worden 1). Der Himmel ist zwar allezeit derselbe, aber das
Land und die Einwohner können eine veränderte Gestalt annehmen. Denn
wenn man erweget, daß die heutigen Einwohner in Aegypten ein fremder
Schlag von Menschen ist, welche auch ihre eigene Sprache eingeführet ha-
ben, daß ihr Gottesdienst, Negierungsform und Lebensart der ehemali-
gen Verfassung ganz und gar entgegen stehet, so wird auch die verschiedene
Beschaffenheit der Körper begreiflich seyn. Die unglaubliche Bevölkerung
machte die alten Aegypter mäßig und arbeitsam; ihre vornehmste Absicht
gieng 2) auf den Ackerbau; ihre Speise bestand mehr in Früchten, als in
Fleisch, und es konnten also die Körper sich nicht mit vielem Fleische behän-
gen. Die heutigen Einwohner in Aegypten aber sind in der Faulheit ein-
geschläfert, und suchen nur zu leben, nicht zu arbeiten, welches den starken
Ansatz ihrer Körper verursachet.

Eben diese Betrachtung läßet sich über die heutigen Griechen machen.D.
Der Grie-
chen und Ita-
liener.

Denn nicht zu gedenken, daß ihr Geblüt einige Jahrhunderte hindurch mit
dem Saamen so vieler Völker, die sich unter ihnen niedergelassen haben,
vermischet worden, so ist leicht einzusehen, daß ihre itzige Verfassung, Er-
ziehung, Unterricht und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß
haben könne. In allen diesen nachtheiligen Umständen ist noch itzo das
heutige Griechische Geblüt wegen dessen Schönheit berühmt, und je mehr
sich die Natur dem Griechischen Himmel nähert, desto schöner, erhabner
und mächtiger ist dieselbe in Bildung der Menschenkinder. Es finden sich
daher in den schönsten Ländern von Italien wenig halb entworfene, unbe-

stimmte
1) Achil. Tat. Erot. L. 3. p. 177. l. 8.
2) Lucian. Icaromenip. p. 771.
C 3

Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt.
Cairo beſchrieben werden, wuͤrde man nicht von ihren alten Figuren auf
die Beſchaffenheit ihrer Koͤrper in alten Zeiten ſchließen koͤnnen, als welche
das Gegentheil von der heutigen ſcheinet geweſen zu ſeyn: es iſt aber zu
merken, daß die Aegypter auch ſchon von den Alten als dicke fette Koͤrper
beſchrieben worden 1). Der Himmel iſt zwar allezeit derſelbe, aber das
Land und die Einwohner koͤnnen eine veraͤnderte Geſtalt annehmen. Denn
wenn man erweget, daß die heutigen Einwohner in Aegypten ein fremder
Schlag von Menſchen iſt, welche auch ihre eigene Sprache eingefuͤhret ha-
ben, daß ihr Gottesdienſt, Negierungsform und Lebensart der ehemali-
gen Verfaſſung ganz und gar entgegen ſtehet, ſo wird auch die verſchiedene
Beſchaffenheit der Koͤrper begreiflich ſeyn. Die unglaubliche Bevoͤlkerung
machte die alten Aegypter maͤßig und arbeitſam; ihre vornehmſte Abſicht
gieng 2) auf den Ackerbau; ihre Speiſe beſtand mehr in Fruͤchten, als in
Fleiſch, und es konnten alſo die Koͤrper ſich nicht mit vielem Fleiſche behaͤn-
gen. Die heutigen Einwohner in Aegypten aber ſind in der Faulheit ein-
geſchlaͤfert, und ſuchen nur zu leben, nicht zu arbeiten, welches den ſtarken
Anſatz ihrer Koͤrper verurſachet.

Eben dieſe Betrachtung laͤßet ſich uͤber die heutigen Griechen machen.D.
Der Grie-
chen und Ita-
liener.

Denn nicht zu gedenken, daß ihr Gebluͤt einige Jahrhunderte hindurch mit
dem Saamen ſo vieler Voͤlker, die ſich unter ihnen niedergelaſſen haben,
vermiſchet worden, ſo iſt leicht einzuſehen, daß ihre itzige Verfaſſung, Er-
ziehung, Unterricht und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß
haben koͤnne. In allen dieſen nachtheiligen Umſtaͤnden iſt noch itzo das
heutige Griechiſche Gebluͤt wegen deſſen Schoͤnheit beruͤhmt, und je mehr
ſich die Natur dem Griechiſchen Himmel naͤhert, deſto ſchoͤner, erhabner
und maͤchtiger iſt dieſelbe in Bildung der Menſchenkinder. Es finden ſich
daher in den ſchoͤnſten Laͤndern von Italien wenig halb entworfene, unbe-

ſtimmte
1) Achil. Tat. Erot. L. 3. p. 177. l. 8.
2) Lucian. Icaromenip. p. 771.
C 3
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[21/0071] Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt. Cairo beſchrieben werden, wuͤrde man nicht von ihren alten Figuren auf die Beſchaffenheit ihrer Koͤrper in alten Zeiten ſchließen koͤnnen, als welche das Gegentheil von der heutigen ſcheinet geweſen zu ſeyn: es iſt aber zu merken, daß die Aegypter auch ſchon von den Alten als dicke fette Koͤrper beſchrieben worden 1). Der Himmel iſt zwar allezeit derſelbe, aber das Land und die Einwohner koͤnnen eine veraͤnderte Geſtalt annehmen. Denn wenn man erweget, daß die heutigen Einwohner in Aegypten ein fremder Schlag von Menſchen iſt, welche auch ihre eigene Sprache eingefuͤhret ha- ben, daß ihr Gottesdienſt, Negierungsform und Lebensart der ehemali- gen Verfaſſung ganz und gar entgegen ſtehet, ſo wird auch die verſchiedene Beſchaffenheit der Koͤrper begreiflich ſeyn. Die unglaubliche Bevoͤlkerung machte die alten Aegypter maͤßig und arbeitſam; ihre vornehmſte Abſicht gieng 2) auf den Ackerbau; ihre Speiſe beſtand mehr in Fruͤchten, als in Fleiſch, und es konnten alſo die Koͤrper ſich nicht mit vielem Fleiſche behaͤn- gen. Die heutigen Einwohner in Aegypten aber ſind in der Faulheit ein- geſchlaͤfert, und ſuchen nur zu leben, nicht zu arbeiten, welches den ſtarken Anſatz ihrer Koͤrper verurſachet. Eben dieſe Betrachtung laͤßet ſich uͤber die heutigen Griechen machen. Denn nicht zu gedenken, daß ihr Gebluͤt einige Jahrhunderte hindurch mit dem Saamen ſo vieler Voͤlker, die ſich unter ihnen niedergelaſſen haben, vermiſchet worden, ſo iſt leicht einzuſehen, daß ihre itzige Verfaſſung, Er- ziehung, Unterricht und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß haben koͤnne. In allen dieſen nachtheiligen Umſtaͤnden iſt noch itzo das heutige Griechiſche Gebluͤt wegen deſſen Schoͤnheit beruͤhmt, und je mehr ſich die Natur dem Griechiſchen Himmel naͤhert, deſto ſchoͤner, erhabner und maͤchtiger iſt dieſelbe in Bildung der Menſchenkinder. Es finden ſich daher in den ſchoͤnſten Laͤndern von Italien wenig halb entworfene, unbe- ſtimmte D. Der Grie- chen und Ita- liener. 1) Achil. Tat. Erot. L. 3. p. 177. l. 8. 2) Lucian. Icaromenip. p. 771. C 3

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/71>, abgerufen am 24.11.2024.