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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
kränztem Haupte, in einer kurzen Weste, welche, an eine Säule gelehnet,
mit geraden Beinen und Füßen vorwerts stehet, spielet jenen auf einer
Schalmeye zum Tanze auf: neben demselben auf einem Basamente stehet
eine Leyer. Zwischen ihm und den tanzenden Figuren stehet auf gedachter
Base ein hohes Piedestal, oder Cippus, und auf demselben eine kleine Figur,
welche nicht sehr kenntlich ist, und ein Indischer Bacchus mit einem Barte
zu seyn scheinet. Auf der andern Seite stehen drey Thyrsi der tanzenden
Personen, wie an der Mauer, und unterwerts ist ein Korb mit Früchten,
dessen Deckel abgenommen ist, und hinter demselben liegt, nebst einer um-
geworfenen Flasche. Die Umrisse dieses und des folgenden Gemäldes
sind diesem fünften Stücke vorgesetzet.

Das zweyte Gemälde von gleicher Größe stellet die Fabel des Eri-
chthonius vor. Pallas, welche dieses Kind heimlich erziehen wollte, gab
dasselbe in einem Korbe verschlossen der Pandroso, des Cecrops, Königs
von Athen, Tochter, in Verwahrung. Die zwo Schwestern derselben, wel-
che das anvertrauete Pfand zu sehen, sich nicht enthalten konnten, beweg-
ten jene, den Korb zu eröffnen, und sie sahen mit Erstaunen ein Kind, wel-
ches an statt der Beine Schlangenschwänze hatte. Die Göttinn bestrafte
diese Neugier mit Raserey an den Töchtern des Cecrops, welche sich von
dem Felsen der Burg zu Athen stürzeten; Erichthonius aber wurde in ih-
rem Tempel daselbst erzogen. So erzählet Apollodorus diese Fabel 1).
Der Tempel ist auf der rechten Seite des Gemäldes durch ein einfältiges
Portal angedeutet, und stehet auf einem Felsen 2): vor dem Tempel ste-
het ein großer runder Korb, in Gestalt einer Cista Mystica, dessen De-
ckel ein wenig eröffnet ist, und aus demselben kriechen wie zwo Schlangen
hervor, welches die Füße des Erichthonius sind. Pallas, mit ihrem
Spieße in der linken Hand, führet die rechte Hand zu dem Deckel des Kor-

bes,
1) Biblioth. L. 3. p. 131. ed. Rom.
2) conf. Eurip. Hippol. v. 30.

I Theil. Viertes Capitel.
kraͤnztem Haupte, in einer kurzen Weſte, welche, an eine Saͤule gelehnet,
mit geraden Beinen und Fuͤßen vorwerts ſtehet, ſpielet jenen auf einer
Schalmeye zum Tanze auf: neben demſelben auf einem Baſamente ſtehet
eine Leyer. Zwiſchen ihm und den tanzenden Figuren ſtehet auf gedachter
Baſe ein hohes Piedeſtal, oder Cippus, und auf demſelben eine kleine Figur,
welche nicht ſehr kenntlich iſt, und ein Indiſcher Bacchus mit einem Barte
zu ſeyn ſcheinet. Auf der andern Seite ſtehen drey Thyrſi der tanzenden
Perſonen, wie an der Mauer, und unterwerts iſt ein Korb mit Fruͤchten,
deſſen Deckel abgenommen iſt, und hinter demſelben liegt, nebſt einer um-
geworfenen Flaſche. Die Umriſſe dieſes und des folgenden Gemaͤldes
ſind dieſem fuͤnften Stuͤcke vorgeſetzet.

Das zweyte Gemaͤlde von gleicher Groͤße ſtellet die Fabel des Eri-
chthonius vor. Pallas, welche dieſes Kind heimlich erziehen wollte, gab
daſſelbe in einem Korbe verſchloſſen der Pandroſo, des Cecrops, Koͤnigs
von Athen, Tochter, in Verwahrung. Die zwo Schweſtern derſelben, wel-
che das anvertrauete Pfand zu ſehen, ſich nicht enthalten konnten, beweg-
ten jene, den Korb zu eroͤffnen, und ſie ſahen mit Erſtaunen ein Kind, wel-
ches an ſtatt der Beine Schlangenſchwaͤnze hatte. Die Goͤttinn beſtrafte
dieſe Neugier mit Raſerey an den Toͤchtern des Cecrops, welche ſich von
dem Felſen der Burg zu Athen ſtuͤrzeten; Erichthonius aber wurde in ih-
rem Tempel daſelbſt erzogen. So erzaͤhlet Apollodorus dieſe Fabel 1).
Der Tempel iſt auf der rechten Seite des Gemaͤldes durch ein einfaͤltiges
Portal angedeutet, und ſtehet auf einem Felſen 2): vor dem Tempel ſte-
het ein großer runder Korb, in Geſtalt einer Ciſta Myſtica, deſſen De-
ckel ein wenig eroͤffnet iſt, und aus demſelben kriechen wie zwo Schlangen
hervor, welches die Fuͤße des Erichthonius ſind. Pallas, mit ihrem
Spieße in der linken Hand, fuͤhret die rechte Hand zu dem Deckel des Kor-

bes,
1) Biblioth. L. 3. p. 131. ed. Rom.
2) conf. Eurip. Hippol. v. 30.
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[278/0328] I Theil. Viertes Capitel. kraͤnztem Haupte, in einer kurzen Weſte, welche, an eine Saͤule gelehnet, mit geraden Beinen und Fuͤßen vorwerts ſtehet, ſpielet jenen auf einer Schalmeye zum Tanze auf: neben demſelben auf einem Baſamente ſtehet eine Leyer. Zwiſchen ihm und den tanzenden Figuren ſtehet auf gedachter Baſe ein hohes Piedeſtal, oder Cippus, und auf demſelben eine kleine Figur, welche nicht ſehr kenntlich iſt, und ein Indiſcher Bacchus mit einem Barte zu ſeyn ſcheinet. Auf der andern Seite ſtehen drey Thyrſi der tanzenden Perſonen, wie an der Mauer, und unterwerts iſt ein Korb mit Fruͤchten, deſſen Deckel abgenommen iſt, und hinter demſelben liegt, nebſt einer um- geworfenen Flaſche. Die Umriſſe dieſes und des folgenden Gemaͤldes ſind dieſem fuͤnften Stuͤcke vorgeſetzet. Das zweyte Gemaͤlde von gleicher Groͤße ſtellet die Fabel des Eri- chthonius vor. Pallas, welche dieſes Kind heimlich erziehen wollte, gab daſſelbe in einem Korbe verſchloſſen der Pandroſo, des Cecrops, Koͤnigs von Athen, Tochter, in Verwahrung. Die zwo Schweſtern derſelben, wel- che das anvertrauete Pfand zu ſehen, ſich nicht enthalten konnten, beweg- ten jene, den Korb zu eroͤffnen, und ſie ſahen mit Erſtaunen ein Kind, wel- ches an ſtatt der Beine Schlangenſchwaͤnze hatte. Die Goͤttinn beſtrafte dieſe Neugier mit Raſerey an den Toͤchtern des Cecrops, welche ſich von dem Felſen der Burg zu Athen ſtuͤrzeten; Erichthonius aber wurde in ih- rem Tempel daſelbſt erzogen. So erzaͤhlet Apollodorus dieſe Fabel 1). Der Tempel iſt auf der rechten Seite des Gemaͤldes durch ein einfaͤltiges Portal angedeutet, und ſtehet auf einem Felſen 2): vor dem Tempel ſte- het ein großer runder Korb, in Geſtalt einer Ciſta Myſtica, deſſen De- ckel ein wenig eroͤffnet iſt, und aus demſelben kriechen wie zwo Schlangen hervor, welches die Fuͤße des Erichthonius ſind. Pallas, mit ihrem Spieße in der linken Hand, fuͤhret die rechte Hand zu dem Deckel des Kor- bes, 1) Biblioth. L. 3. p. 131. ed. Rom. 2) conf. Eurip. Hippol. v. 30.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/328>, abgerufen am 25.11.2024.