Art zu schreiben, allgemein seyn. Wenn von den damaligen Scribenten nur allein Thucydides übrig wäre, so würden wir von dessen bis zur Dun- kelheit getriebenen Kürze in den Reden seiner Geschichte einen irrigen Schluß auf den Plato, Lysias und Xenophon machen, dessen Worte wie ein sanfter Bach fortfließen.
B. Uebrige Wer- ke aus demsel- ben in Rom.
Die vorzüglichsten, und man kann sagen, die einzigen Werke in Rom aus der Zeit dieses hohen Stils sind, so viel ich es einsehen kann, die oft angeführte Pallas von neun Palme hoch, in der Villa Albani, und die Niobe und ihre Töchter in der Villa Medicis. Jene Statue ist der großen Künstler dieser Zeit würdig, und das Urtheil über dieselbe kann um so viel richtiger seyn, da wir den Kopf in seiner ganzen ursprünglichen Schön- heit sehen: denn es ist derselbe auch nicht durch einen scharfen Hauch ver- letzet worden, sondern er ist so rein und glänzend, als er aus den Händen seines Meisters kam. Es hat dieser Kopf bey der hohen Schönheit, mit welcher er begabet ist, die angezeigten Kennzeichen dieses Stils, und es zeiget sich in demselben eine gewisse Härte, welche aber besser empfunden, als be- schrieben werden kann. Man könnte in dem Gesichte eine gewisse Gratie zu sehen wünschen, die dasselbe durch mehr Rundung und Lindigkeit er- halten würde, und dieses ist vermuthlich diejenige Gratie, welche in dem folgenden Alter der Kunst Praxiteles seinen Figuren zu erst gab, wie un- ten angezeiget wird. Die Niobe und ihre Töchter sind als ungezweifelte Werke dieses hohen Stils anzusehen, aber eins von den Kennzeichen der- selben ist nicht derjenige Schein von Härte, welche in der Pallas eine Muthmaßung zur Bestimmung derselben giebt, sondern es sind die vor- nehmsten Eigenschaften zu Andeutung dieses Stils, der gleichsam uner- schaffene Begriff der Schönheit, vornehmlich aber die hohe Einfalt, so wohl in der Bildung der Köpfe, als in der ganzen Zeichnung, in der Kleidung, und in der Ausarbeitung. Diese Schönheit ist wie eine nicht durch Hülfe der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verstande, und in einer
glückli-
I Theil. Viertes Capitel.
Art zu ſchreiben, allgemein ſeyn. Wenn von den damaligen Scribenten nur allein Thucydides uͤbrig waͤre, ſo wuͤrden wir von deſſen bis zur Dun- kelheit getriebenen Kuͤrze in den Reden ſeiner Geſchichte einen irrigen Schluß auf den Plato, Lyſias und Xenophon machen, deſſen Worte wie ein ſanfter Bach fortfließen.
B. Uebrige Wer- ke aus demſel- ben in Rom.
Die vorzuͤglichſten, und man kann ſagen, die einzigen Werke in Rom aus der Zeit dieſes hohen Stils ſind, ſo viel ich es einſehen kann, die oft angefuͤhrte Pallas von neun Palme hoch, in der Villa Albani, und die Niobe und ihre Toͤchter in der Villa Medicis. Jene Statue iſt der großen Kuͤnſtler dieſer Zeit wuͤrdig, und das Urtheil uͤber dieſelbe kann um ſo viel richtiger ſeyn, da wir den Kopf in ſeiner ganzen urſpruͤnglichen Schoͤn- heit ſehen: denn es iſt derſelbe auch nicht durch einen ſcharfen Hauch ver- letzet worden, ſondern er iſt ſo rein und glaͤnzend, als er aus den Haͤnden ſeines Meiſters kam. Es hat dieſer Kopf bey der hohen Schoͤnheit, mit welcher er begabet iſt, die angezeigten Kennzeichen dieſes Stils, und es zeiget ſich in demſelben eine gewiſſe Haͤrte, welche aber beſſer empfunden, als be- ſchrieben werden kann. Man koͤnnte in dem Geſichte eine gewiſſe Gratie zu ſehen wuͤnſchen, die daſſelbe durch mehr Rundung und Lindigkeit er- halten wuͤrde, und dieſes iſt vermuthlich diejenige Gratie, welche in dem folgenden Alter der Kunſt Praxiteles ſeinen Figuren zu erſt gab, wie un- ten angezeiget wird. Die Niobe und ihre Toͤchter ſind als ungezweifelte Werke dieſes hohen Stils anzuſehen, aber eins von den Kennzeichen der- ſelben iſt nicht derjenige Schein von Haͤrte, welche in der Pallas eine Muthmaßung zur Beſtimmung derſelben giebt, ſondern es ſind die vor- nehmſten Eigenſchaften zu Andeutung dieſes Stils, der gleichſam uner- ſchaffene Begriff der Schoͤnheit, vornehmlich aber die hohe Einfalt, ſo wohl in der Bildung der Koͤpfe, als in der ganzen Zeichnung, in der Kleidung, und in der Ausarbeitung. Dieſe Schoͤnheit iſt wie eine nicht durch Huͤlfe der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verſtande, und in einer
gluͤckli-
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I Theil. Viertes Capitel.
Art zu ſchreiben, allgemein ſeyn. Wenn von den damaligen Scribenten
nur allein Thucydides uͤbrig waͤre, ſo wuͤrden wir von deſſen bis zur Dun-
kelheit getriebenen Kuͤrze in den Reden ſeiner Geſchichte einen irrigen
Schluß auf den Plato, Lyſias und Xenophon machen, deſſen Worte wie
ein ſanfter Bach fortfließen.
Die vorzuͤglichſten, und man kann ſagen, die einzigen Werke in Rom
aus der Zeit dieſes hohen Stils ſind, ſo viel ich es einſehen kann, die oft
angefuͤhrte Pallas von neun Palme hoch, in der Villa Albani, und die
Niobe und ihre Toͤchter in der Villa Medicis. Jene Statue iſt der großen
Kuͤnſtler dieſer Zeit wuͤrdig, und das Urtheil uͤber dieſelbe kann um ſo
viel richtiger ſeyn, da wir den Kopf in ſeiner ganzen urſpruͤnglichen Schoͤn-
heit ſehen: denn es iſt derſelbe auch nicht durch einen ſcharfen Hauch ver-
letzet worden, ſondern er iſt ſo rein und glaͤnzend, als er aus den Haͤnden
ſeines Meiſters kam. Es hat dieſer Kopf bey der hohen Schoͤnheit, mit
welcher er begabet iſt, die angezeigten Kennzeichen dieſes Stils, und es zeiget
ſich in demſelben eine gewiſſe Haͤrte, welche aber beſſer empfunden, als be-
ſchrieben werden kann. Man koͤnnte in dem Geſichte eine gewiſſe Gratie
zu ſehen wuͤnſchen, die daſſelbe durch mehr Rundung und Lindigkeit er-
halten wuͤrde, und dieſes iſt vermuthlich diejenige Gratie, welche in dem
folgenden Alter der Kunſt Praxiteles ſeinen Figuren zu erſt gab, wie un-
ten angezeiget wird. Die Niobe und ihre Toͤchter ſind als ungezweifelte
Werke dieſes hohen Stils anzuſehen, aber eins von den Kennzeichen der-
ſelben iſt nicht derjenige Schein von Haͤrte, welche in der Pallas eine
Muthmaßung zur Beſtimmung derſelben giebt, ſondern es ſind die vor-
nehmſten Eigenſchaften zu Andeutung dieſes Stils, der gleichſam uner-
ſchaffene Begriff der Schoͤnheit, vornehmlich aber die hohe Einfalt, ſo wohl
in der Bildung der Koͤpfe, als in der ganzen Zeichnung, in der Kleidung,
und in der Ausarbeitung. Dieſe Schoͤnheit iſt wie eine nicht durch Huͤlfe
der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verſtande, und in einer
gluͤckli-
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/276>, abgerufen am 16.07.2024.
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