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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
ich selbst gesehen, und genau untersuchen können; daher ich von einem der
ältesten erhobenen Arbeiten in der Welt, welche in Engeland ist, in Ab-
sicht meines gegenwärtigen Vorhabens nicht reden kann. Es stellet dasselbe
Werk einen jungen Ringer vor, welcher vor einem sitzenden Jupiter stehet:
ich zeige dasselbe zu Anfang des zweyten Theils an. Den ältern Stil
glauben die Liebhaber des Alterthums in einem erhobenen Werke im Cam-
pidoglio zu finden, welches drey Weibliche Bacchanten 1), nebst einem
Faun vorstellet, mit der Unterschrift: KALLIMAKh oS EP oIEI. Cal-
limachus
soll derjenige seyn welcher sich niemals ein Genüge thun kön-
nen 2), und weil er tanzende Spartanerinnen gemacht hat 3), so hält man
jenes für dieses. Die Schrift auf demselben ist mir bedenklich: sie kann
nicht für neu gehalten werden, aber sehr wohl schon vor Alters nachgemacht
und untergeschoben worden seyn, eben so wie der Name des Lysippus an ei-
nem Hercules in Florenz, welcher alt ist, aber so wenig, als die Statue
selbst, von der Hand dieses Künstlers seyn kann. Eine Griechische Arbeit
von dem Stile des Werks im Campidoglio müßte nach den Begriffen, die
wir von den Zeiten des Flors der Kunst haben, älter seyn; Callimachus
aber kann nicht vor dem Phidias gelebet haben: die ihn in die sechzigste
Olympias setzen 4), haben nicht den mindesten Grund, und irren sehr gröb-
lich. Und wenn auch dieses anzunehmen wäre, so könnte kein X in dem
Namen desselben seyn; dieser Buchstab wurde viel später vom Simonides
erfunden: Callimachus müßte geschrieben seyn KDLLIMDKE oS,
oder KDLIMDKoS 5), wie in einer alten Amycleischen Inschrift 6).
Pausanias setzet ihn unter die großen Künstler herunter; also muß er zu
einer Zeit gelebet haben, wo es möglich gewesen wäre, ihnen in der Kunst

bey-
1) Fontanin. Antiq. Hort. L. 1. c. 6. p. 116. Montfauc. Ant. expl. T. 1. P. 11. pl. 174.
2) Fontan. l. c. Lucatel. Mus. Capit. p. 36.
3) Plin. L. 34. c. 19.
4) Felibien Hist. des Archit. p. 22.
5) conf. Reinold. Hist. Litt. graec. & lat. p. 9.
6) Nouv. Traite de Diplomat. T. 1. p. 616.
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Von der Kunſt unter den Griechen.
ich ſelbſt geſehen, und genau unterſuchen koͤnnen; daher ich von einem der
aͤlteſten erhobenen Arbeiten in der Welt, welche in Engeland iſt, in Ab-
ſicht meines gegenwaͤrtigen Vorhabens nicht reden kann. Es ſtellet daſſelbe
Werk einen jungen Ringer vor, welcher vor einem ſitzenden Jupiter ſtehet:
ich zeige daſſelbe zu Anfang des zweyten Theils an. Den aͤltern Stil
glauben die Liebhaber des Alterthums in einem erhobenen Werke im Cam-
pidoglio zu finden, welches drey Weibliche Bacchanten 1), nebſt einem
Faun vorſtellet, mit der Unterſchrift: ΚΑΛΛΙΜΑΧ ͦΣ ΕΠ ͦΙΕΙ. Cal-
limachus
ſoll derjenige ſeyn welcher ſich niemals ein Genuͤge thun koͤn-
nen 2), und weil er tanzende Spartanerinnen gemacht hat 3), ſo haͤlt man
jenes fuͤr dieſes. Die Schrift auf demſelben iſt mir bedenklich: ſie kann
nicht fuͤr neu gehalten werden, aber ſehr wohl ſchon vor Alters nachgemacht
und untergeſchoben worden ſeyn, eben ſo wie der Name des Lyſippus an ei-
nem Hercules in Florenz, welcher alt iſt, aber ſo wenig, als die Statue
ſelbſt, von der Hand dieſes Kuͤnſtlers ſeyn kann. Eine Griechiſche Arbeit
von dem Stile des Werks im Campidoglio muͤßte nach den Begriffen, die
wir von den Zeiten des Flors der Kunſt haben, aͤlter ſeyn; Callimachus
aber kann nicht vor dem Phidias gelebet haben: die ihn in die ſechzigſte
Olympias ſetzen 4), haben nicht den mindeſten Grund, und irren ſehr groͤb-
lich. Und wenn auch dieſes anzunehmen waͤre, ſo koͤnnte kein X in dem
Namen deſſelben ſeyn; dieſer Buchſtab wurde viel ſpaͤter vom Simonides
erfunden: Callimachus muͤßte geſchrieben ſeyn ΚΔΛΛΙΜΔΚΗ ͦΣ,
oder ΚΔΛΙΜΔΚοΣ 5), wie in einer alten Amycleiſchen Inſchrift 6).
Pauſanias ſetzet ihn unter die großen Kuͤnſtler herunter; alſo muß er zu
einer Zeit gelebet haben, wo es moͤglich geweſen waͤre, ihnen in der Kunſt

bey-
1) Fontanin. Antiq. Hort. L. 1. c. 6. p. 116. Montfauc. Ant. expl. T. 1. P. 11. pl. 174.
2) Fontan. l. c. Lucatel. Muſ. Capit. p. 36.
3) Plin. L. 34. c. 19.
4) Felibien Hiſt. des Archit. p. 22.
5) conf. Reinold. Hiſt. Litt. græc. & lat. p. 9.
6) Nouv. Traité de Diplomat. T. 1. p. 616.
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[219/0269] Von der Kunſt unter den Griechen. ich ſelbſt geſehen, und genau unterſuchen koͤnnen; daher ich von einem der aͤlteſten erhobenen Arbeiten in der Welt, welche in Engeland iſt, in Ab- ſicht meines gegenwaͤrtigen Vorhabens nicht reden kann. Es ſtellet daſſelbe Werk einen jungen Ringer vor, welcher vor einem ſitzenden Jupiter ſtehet: ich zeige daſſelbe zu Anfang des zweyten Theils an. Den aͤltern Stil glauben die Liebhaber des Alterthums in einem erhobenen Werke im Cam- pidoglio zu finden, welches drey Weibliche Bacchanten 1), nebſt einem Faun vorſtellet, mit der Unterſchrift: ΚΑΛΛΙΜΑΧ ͦΣ ΕΠ ͦΙΕΙ. Cal- limachus ſoll derjenige ſeyn welcher ſich niemals ein Genuͤge thun koͤn- nen 2), und weil er tanzende Spartanerinnen gemacht hat 3), ſo haͤlt man jenes fuͤr dieſes. Die Schrift auf demſelben iſt mir bedenklich: ſie kann nicht fuͤr neu gehalten werden, aber ſehr wohl ſchon vor Alters nachgemacht und untergeſchoben worden ſeyn, eben ſo wie der Name des Lyſippus an ei- nem Hercules in Florenz, welcher alt iſt, aber ſo wenig, als die Statue ſelbſt, von der Hand dieſes Kuͤnſtlers ſeyn kann. Eine Griechiſche Arbeit von dem Stile des Werks im Campidoglio muͤßte nach den Begriffen, die wir von den Zeiten des Flors der Kunſt haben, aͤlter ſeyn; Callimachus aber kann nicht vor dem Phidias gelebet haben: die ihn in die ſechzigſte Olympias ſetzen 4), haben nicht den mindeſten Grund, und irren ſehr groͤb- lich. Und wenn auch dieſes anzunehmen waͤre, ſo koͤnnte kein X in dem Namen deſſelben ſeyn; dieſer Buchſtab wurde viel ſpaͤter vom Simonides erfunden: Callimachus muͤßte geſchrieben ſeyn ΚΔΛΛΙΜΔΚΗ ͦΣ, oder ΚΔΛΙΜΔΚοΣ 5), wie in einer alten Amycleiſchen Inſchrift 6). Pauſanias ſetzet ihn unter die großen Kuͤnſtler herunter; alſo muß er zu einer Zeit gelebet haben, wo es moͤglich geweſen waͤre, ihnen in der Kunſt bey- 1) Fontanin. Antiq. Hort. L. 1. c. 6. p. 116. Montfauc. Ant. expl. T. 1. P. 11. pl. 174. 2) Fontan. l. c. Lucatel. Muſ. Capit. p. 36. 3) Plin. L. 34. c. 19. 4) Felibien Hiſt. des Archit. p. 22. 5) conf. Reinold. Hiſt. Litt. græc. & lat. p. 9. 6) Nouv. Traité de Diplomat. T. 1. p. 616. E e 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/269>, abgerufen am 16.07.2024.