Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.Von der Kunst unter den Griechen. und Unvollkommenheiten in Werken der Kunst zu entdecken, bevor dudas Schöne erkennen und finden gelernet. Diese Erinnerung gründet sich auf eine tägliche Erfahrung, und den mehresten, weil sie den Censor ma- chen wollen, ehe sie Schüler zu werden angefangen, ist das Schöne uner- kannt geblieben: denn sie machen es wie die Schulknaben, die alle Witz genug haben, die Schwäche des Lehrmeisters zu entdecken. Unsere Eitel- keit wollte nicht gerne mit müßiger Anschauung vorbey gehen, und unsere eigene Genugthuung will geschmeichelt seyn; daher wir suchen ein Urtheil zu fällen. So wie aber ein verneinender Satz eher, als ein bejahender, gefunden wird, eben so ist das Unvollkommene viel leichter, als das Voll- kommene, zu bemerken und zu finden, und es kostet weniger Mühe, andere zu beurtheilen, als selbst zu lehren. Man wird insgemein, wenn man sich einer schönen Statue nähert, die Schönheit derselben in allgemeinen Aus- drücken rühmen, weil dieses nichts kostet, und wenn das Auge ungewiß und flatternd auf derselben herum geirret, und das Gute in den Theilen, mit dessen Gründen, nicht entdecket hat, bleibet es an dem Fehlerhaften hängen. Am Apollo bemerket es das einwerts gerückte Knie, welches mehr ein Fehler des zusammengesetzten Bruchs, als des Meisters ist; am vermeynten Antinous im Belvedere die auswerts gebogenen Beine; am Farnesischen Hercules den Kopf, von welchem man gelesen hat, daß er ziemlich klein sey. Die noch mehr wissen wollen, erzählen hierbey, daß der Kopf eine Meile weit von der Statue in einem Brunnen, und die Beine zehen Meilen weit von der Statue gefunden worden, welche Fabel auf guten Glauben in mehr als einem Buche vorgebracht ist; daher ge- schieht es alsdenn, daß man nur die neuen Zusätze bemerket. Von die- ser Art sind die Anmerkungen, welche die blinden Führer der Reisenden in Rom, und die Reisebeschreiber von Italien machen. Einige irren, wie jene, aus Vorsicht, wenn sie in Betrachtung der Werke der Alten alle Vorurtheile zum Vortheile derselben, bey Seite setzen wollen; sie sollen aber Winckelm Gesch. der Kunst. A a
Von der Kunſt unter den Griechen. und Unvollkommenheiten in Werken der Kunſt zu entdecken, bevor dudas Schoͤne erkennen und finden gelernet. Dieſe Erinnerung gruͤndet ſich auf eine taͤgliche Erfahrung, und den mehreſten, weil ſie den Cenſor ma- chen wollen, ehe ſie Schuͤler zu werden angefangen, iſt das Schoͤne uner- kannt geblieben: denn ſie machen es wie die Schulknaben, die alle Witz genug haben, die Schwaͤche des Lehrmeiſters zu entdecken. Unſere Eitel- keit wollte nicht gerne mit muͤßiger Anſchauung vorbey gehen, und unſere eigene Genugthuung will geſchmeichelt ſeyn; daher wir ſuchen ein Urtheil zu faͤllen. So wie aber ein verneinender Satz eher, als ein bejahender, gefunden wird, eben ſo iſt das Unvollkommene viel leichter, als das Voll- kommene, zu bemerken und zu finden, und es koſtet weniger Muͤhe, andere zu beurtheilen, als ſelbſt zu lehren. Man wird insgemein, wenn man ſich einer ſchoͤnen Statue naͤhert, die Schoͤnheit derſelben in allgemeinen Aus- druͤcken ruͤhmen, weil dieſes nichts koſtet, und wenn das Auge ungewiß und flatternd auf derſelben herum geirret, und das Gute in den Theilen, mit deſſen Gruͤnden, nicht entdecket hat, bleibet es an dem Fehlerhaften haͤngen. Am Apollo bemerket es das einwerts geruͤckte Knie, welches mehr ein Fehler des zuſammengeſetzten Bruchs, als des Meiſters iſt; am vermeynten Antinous im Belvedere die auswerts gebogenen Beine; am Farneſiſchen Hercules den Kopf, von welchem man geleſen hat, daß er ziemlich klein ſey. Die noch mehr wiſſen wollen, erzaͤhlen hierbey, daß der Kopf eine Meile weit von der Statue in einem Brunnen, und die Beine zehen Meilen weit von der Statue gefunden worden, welche Fabel auf guten Glauben in mehr als einem Buche vorgebracht iſt; daher ge- ſchieht es alsdenn, daß man nur die neuen Zuſaͤtze bemerket. Von die- ſer Art ſind die Anmerkungen, welche die blinden Fuͤhrer der Reiſenden in Rom, und die Reiſebeſchreiber von Italien machen. Einige irren, wie jene, aus Vorſicht, wenn ſie in Betrachtung der Werke der Alten alle Vorurtheile zum Vortheile derſelben, bey Seite ſetzen wollen; ſie ſollen aber Winckelm Geſch. der Kunſt. A a
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Von der Kunſt unter den Griechen.
und Unvollkommenheiten in Werken der Kunſt zu entdecken, bevor du
das Schoͤne erkennen und finden gelernet. Dieſe Erinnerung gruͤndet ſich
auf eine taͤgliche Erfahrung, und den mehreſten, weil ſie den Cenſor ma-
chen wollen, ehe ſie Schuͤler zu werden angefangen, iſt das Schoͤne uner-
kannt geblieben: denn ſie machen es wie die Schulknaben, die alle Witz
genug haben, die Schwaͤche des Lehrmeiſters zu entdecken. Unſere Eitel-
keit wollte nicht gerne mit muͤßiger Anſchauung vorbey gehen, und unſere
eigene Genugthuung will geſchmeichelt ſeyn; daher wir ſuchen ein Urtheil
zu faͤllen. So wie aber ein verneinender Satz eher, als ein bejahender,
gefunden wird, eben ſo iſt das Unvollkommene viel leichter, als das Voll-
kommene, zu bemerken und zu finden, und es koſtet weniger Muͤhe, andere
zu beurtheilen, als ſelbſt zu lehren. Man wird insgemein, wenn man ſich
einer ſchoͤnen Statue naͤhert, die Schoͤnheit derſelben in allgemeinen Aus-
druͤcken ruͤhmen, weil dieſes nichts koſtet, und wenn das Auge ungewiß
und flatternd auf derſelben herum geirret, und das Gute in den Theilen,
mit deſſen Gruͤnden, nicht entdecket hat, bleibet es an dem Fehlerhaften
haͤngen. Am Apollo bemerket es das einwerts geruͤckte Knie, welches
mehr ein Fehler des zuſammengeſetzten Bruchs, als des Meiſters iſt; am
vermeynten Antinous im Belvedere die auswerts gebogenen Beine; am
Farneſiſchen Hercules den Kopf, von welchem man geleſen hat, daß er
ziemlich klein ſey. Die noch mehr wiſſen wollen, erzaͤhlen hierbey, daß
der Kopf eine Meile weit von der Statue in einem Brunnen, und die
Beine zehen Meilen weit von der Statue gefunden worden, welche Fabel
auf guten Glauben in mehr als einem Buche vorgebracht iſt; daher ge-
ſchieht es alsdenn, daß man nur die neuen Zuſaͤtze bemerket. Von die-
ſer Art ſind die Anmerkungen, welche die blinden Fuͤhrer der Reiſenden in
Rom, und die Reiſebeſchreiber von Italien machen. Einige irren, wie
jene, aus Vorſicht, wenn ſie in Betrachtung der Werke der Alten alle
Vorurtheile zum Vortheile derſelben, bey Seite ſetzen wollen; ſie ſollen
aber
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