Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.Von der Kunst unter den Griechen. und in dieser Gestalt erscheinet derselbe in verschiedenem Alter bis zu einemvollkommenen Gewächse, und in den schönsten Figuren allezeit mit feinen und rundlichen Gliedern, und mit völligen und ausschweifenden Hüften des Weiblichen Geschlechts. Die Formen sind sanft und flüßig wie mit ei- nem gelinden Hauche geblasen, fast ohne Andeutung der Knöchel und der Knorpel an den Knien, so wie diese in der schönsten Natur eines Knabens und in Verschnittenen gebildet sind. Das Bild des Bacchus ist ein schöner Knabe, welcher die Gränzen des Frühlings des Lebens und der Jüng- lingschaft betritt, bey welchem die Regung der Wollust wie die zarte Spitze einer Pflanze zu keimen anfängt, und welcher wie zwischen Schlummer und Wachen, in einem entzückenden Traume halb versenkt, die Bilder dessel- ben zu sammlen, und sich wahr zu machen anfängt: seine Züge sind voller Süßigkeit, aber die fröliche Seele tritt nicht ganz ins Gesicht. In eini- gen Statuen des Apollo ist die Bildung desselben einem Bacchus sehr ähn- lich, und von dieser Art ist der Apollo, welcher sich nachläßig wie an einen Baum lehnet, mit einem Schwane unter sich, im Campidoglio, und in drey ähnlichen gleich schönen Figuren in der Villa Medicis: denn in einer von diesen Gottheiten wurden zuweilen beyde verehret 1), und einer wurde an statt des andern genommen. Ich kann fast nicht ohne Thränen einen verstümmelten Bacchus, welcher neun Palme hoch seyn würde, in der Villa Albani, betrachten, an welchem der Kopf und die Brust, nebst den Armen, fehlen. Es ist derselbe von dem Mittel des Körpers an bis auf die Füße bekleidet, oder besser zu reden, es ist sein Gewand oder Mantel bis unter die Natur herab gesunken, und dieses weitläuftige und von Fal- ten reiche Gewand ist zusammengefasset, und dasjenige, was auf die Erde herunter hängen würde, ist über den Zweig eines Baums geworfen, an welchen die Figur gelehnet stehet; um den Baum hat sich Ephen geschlun- gen, 1) Macrob. Saturn. L. 1. c. 18. 19. & 21. Winckelm. Gesch. der Kunst. X
Von der Kunſt unter den Griechen. und in dieſer Geſtalt erſcheinet derſelbe in verſchiedenem Alter bis zu einemvollkommenen Gewaͤchſe, und in den ſchoͤnſten Figuren allezeit mit feinen und rundlichen Gliedern, und mit voͤlligen und ausſchweifenden Huͤften des Weiblichen Geſchlechts. Die Formen ſind ſanft und fluͤßig wie mit ei- nem gelinden Hauche geblaſen, faſt ohne Andeutung der Knoͤchel und der Knorpel an den Knien, ſo wie dieſe in der ſchoͤnſten Natur eines Knabens und in Verſchnittenen gebildet ſind. Das Bild des Bacchus iſt ein ſchoͤner Knabe, welcher die Graͤnzen des Fruͤhlings des Lebens und der Juͤng- lingſchaft betritt, bey welchem die Regung der Wolluſt wie die zarte Spitze einer Pflanze zu keimen anfaͤngt, und welcher wie zwiſchen Schlummer und Wachen, in einem entzuͤckenden Traume halb verſenkt, die Bilder deſſel- ben zu ſammlen, und ſich wahr zu machen anfaͤngt: ſeine Zuͤge ſind voller Suͤßigkeit, aber die froͤliche Seele tritt nicht ganz ins Geſicht. In eini- gen Statuen des Apollo iſt die Bildung deſſelben einem Bacchus ſehr aͤhn- lich, und von dieſer Art iſt der Apollo, welcher ſich nachlaͤßig wie an einen Baum lehnet, mit einem Schwane unter ſich, im Campidoglio, und in drey aͤhnlichen gleich ſchoͤnen Figuren in der Villa Medicis: denn in einer von dieſen Gottheiten wurden zuweilen beyde verehret 1), und einer wurde an ſtatt des andern genommen. Ich kann faſt nicht ohne Thraͤnen einen verſtuͤmmelten Bacchus, welcher neun Palme hoch ſeyn wuͤrde, in der Villa Albani, betrachten, an welchem der Kopf und die Bruſt, nebſt den Armen, fehlen. Es iſt derſelbe von dem Mittel des Koͤrpers an bis auf die Fuͤße bekleidet, oder beſſer zu reden, es iſt ſein Gewand oder Mantel bis unter die Natur herab geſunken, und dieſes weitlaͤuftige und von Fal- ten reiche Gewand iſt zuſammengefaſſet, und dasjenige, was auf die Erde herunter haͤngen wuͤrde, iſt uͤber den Zweig eines Baums geworfen, an welchen die Figur gelehnet ſtehet; um den Baum hat ſich Ephen geſchlun- gen, 1) Macrob. Saturn. L. 1. c. 18. 19. & 21. Winckelm. Geſch. der Kunſt. X
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Von der Kunſt unter den Griechen.
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vollkommenen Gewaͤchſe, und in den ſchoͤnſten Figuren allezeit mit feinen
und rundlichen Gliedern, und mit voͤlligen und ausſchweifenden Huͤften des
Weiblichen Geſchlechts. Die Formen ſind ſanft und fluͤßig wie mit ei-
nem gelinden Hauche geblaſen, faſt ohne Andeutung der Knoͤchel und der
Knorpel an den Knien, ſo wie dieſe in der ſchoͤnſten Natur eines Knabens
und in Verſchnittenen gebildet ſind. Das Bild des Bacchus iſt ein ſchoͤner
Knabe, welcher die Graͤnzen des Fruͤhlings des Lebens und der Juͤng-
lingſchaft betritt, bey welchem die Regung der Wolluſt wie die zarte Spitze
einer Pflanze zu keimen anfaͤngt, und welcher wie zwiſchen Schlummer und
Wachen, in einem entzuͤckenden Traume halb verſenkt, die Bilder deſſel-
ben zu ſammlen, und ſich wahr zu machen anfaͤngt: ſeine Zuͤge ſind voller
Suͤßigkeit, aber die froͤliche Seele tritt nicht ganz ins Geſicht. In eini-
gen Statuen des Apollo iſt die Bildung deſſelben einem Bacchus ſehr aͤhn-
lich, und von dieſer Art iſt der Apollo, welcher ſich nachlaͤßig wie an einen
Baum lehnet, mit einem Schwane unter ſich, im Campidoglio, und in
drey aͤhnlichen gleich ſchoͤnen Figuren in der Villa Medicis: denn in einer
von dieſen Gottheiten wurden zuweilen beyde verehret 1), und einer wurde
an ſtatt des andern genommen. Ich kann faſt nicht ohne Thraͤnen einen
verſtuͤmmelten Bacchus, welcher neun Palme hoch ſeyn wuͤrde, in der
Villa Albani, betrachten, an welchem der Kopf und die Bruſt, nebſt den
Armen, fehlen. Es iſt derſelbe von dem Mittel des Koͤrpers an bis auf
die Fuͤße bekleidet, oder beſſer zu reden, es iſt ſein Gewand oder Mantel
bis unter die Natur herab geſunken, und dieſes weitlaͤuftige und von Fal-
ten reiche Gewand iſt zuſammengefaſſet, und dasjenige, was auf die Erde
herunter haͤngen wuͤrde, iſt uͤber den Zweig eines Baums geworfen, an
welchen die Figur gelehnet ſtehet; um den Baum hat ſich Ephen geſchlun-
gen,
1) Macrob. Saturn. L. 1. c. 18. 19. & 21.
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