Schaam, die in einem Beutel stecket, welcher mit Bändern um die Hüften gebunden ist, daß man es wider den Wohlstand gehalten habe, ganz nackte Figuren vorzustellen.
Wenn man aus den ältesten geschnittenen Steinen der Hetrurier ur- theilen wollte, so würde man glauben, der erste Stil sey nicht allgemein, wenigstens nicht unter Steinschneidern, gewesen. Denn an den Figuren auf Steinen ist alles knolligt und Kugelmäßig, welches das Gegentheil von den angegebenen Kennzeichen des ersten Stils wäre: eins aber wi- derspricht dem andern nicht. Denn wenn ihre Steine, wie itzo, mit dem Rade geschnitten worden, wie der Anblick selbst zu geben scheinet, so war der leichteste Weg, im Drehen durch Rundungen eine Figur auszuarbeiten, und hervor zu bringen, und vermuthlich verstanden die ältesten Steinschnei- der nicht, mit sehr spitzigen Eisen zu arbeiten: die kugelichten Formen wä- ren also kein Grundsatz der Kunst, sondern ein Mechanischer Weg in der Arbeit. Die geschnittenen Steine ihrer ersten Zeiten aber sind das Gegen- theil ihrer ersten und ältesten Figuren in Marmor und in Erzt, und es wird aus jenen offenbar, daß sich die Verbesserung der Kunst mit einem starken Ausdrucke, und mit einer empfindlichen Andeutung der Theile an ihren Figuren angefangen habe, welches sich auch an einigen Werken in Marmor zeiget; und dieses ist das Kennzeichen der besten Zeiten ihrer Kunst.
Um welche Zeit sich dieser Stil völlig gebildet, läßt sich nicht bestim- men, es ist aber wahrscheinlich, daß es mit der Verbesserung der Griechi- schen Kunst zu gleicher Zeit eingetroffen sey. Denn man kann sich die Zeit vor und unter dem Phidias, wie die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften in neueren Zeiten, vorstellen, welche nicht in einem einzigen Lande allein anfieng, und sich in andere Länder ausbreitete, sondern die ganze Natur der Menschenkinder schien damals in allen Ländern rege zu werden, und die großen Erfindungen thaten sich mit einmal hervor. In
Grie-
I Theil. Drittes Capitel.
Schaam, die in einem Beutel ſtecket, welcher mit Baͤndern um die Huͤften gebunden iſt, daß man es wider den Wohlſtand gehalten habe, ganz nackte Figuren vorzuſtellen.
Wenn man aus den aͤlteſten geſchnittenen Steinen der Hetrurier ur- theilen wollte, ſo wuͤrde man glauben, der erſte Stil ſey nicht allgemein, wenigſtens nicht unter Steinſchneidern, geweſen. Denn an den Figuren auf Steinen iſt alles knolligt und Kugelmaͤßig, welches das Gegentheil von den angegebenen Kennzeichen des erſten Stils waͤre: eins aber wi- derſpricht dem andern nicht. Denn wenn ihre Steine, wie itzo, mit dem Rade geſchnitten worden, wie der Anblick ſelbſt zu geben ſcheinet, ſo war der leichteſte Weg, im Drehen durch Rundungen eine Figur auszuarbeiten, und hervor zu bringen, und vermuthlich verſtanden die aͤlteſten Steinſchnei- der nicht, mit ſehr ſpitzigen Eiſen zu arbeiten: die kugelichten Formen waͤ- ren alſo kein Grundſatz der Kunſt, ſondern ein Mechaniſcher Weg in der Arbeit. Die geſchnittenen Steine ihrer erſten Zeiten aber ſind das Gegen- theil ihrer erſten und aͤlteſten Figuren in Marmor und in Erzt, und es wird aus jenen offenbar, daß ſich die Verbeſſerung der Kunſt mit einem ſtarken Ausdrucke, und mit einer empfindlichen Andeutung der Theile an ihren Figuren angefangen habe, welches ſich auch an einigen Werken in Marmor zeiget; und dieſes iſt das Kennzeichen der beſten Zeiten ihrer Kunſt.
Um welche Zeit ſich dieſer Stil voͤllig gebildet, laͤßt ſich nicht beſtim- men, es iſt aber wahrſcheinlich, daß es mit der Verbeſſerung der Griechi- ſchen Kunſt zu gleicher Zeit eingetroffen ſey. Denn man kann ſich die Zeit vor und unter dem Phidias, wie die Wiederherſtellung der Kuͤnſte und Wiſſenſchaften in neueren Zeiten, vorſtellen, welche nicht in einem einzigen Lande allein anfieng, und ſich in andere Laͤnder ausbreitete, ſondern die ganze Natur der Menſchenkinder ſchien damals in allen Laͤndern rege zu werden, und die großen Erfindungen thaten ſich mit einmal hervor. In
Grie-
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I Theil. Drittes Capitel.
Schaam, die in einem Beutel ſtecket, welcher mit Baͤndern um die Huͤften
gebunden iſt, daß man es wider den Wohlſtand gehalten habe, ganz nackte
Figuren vorzuſtellen.
Wenn man aus den aͤlteſten geſchnittenen Steinen der Hetrurier ur-
theilen wollte, ſo wuͤrde man glauben, der erſte Stil ſey nicht allgemein,
wenigſtens nicht unter Steinſchneidern, geweſen. Denn an den Figuren
auf Steinen iſt alles knolligt und Kugelmaͤßig, welches das Gegentheil
von den angegebenen Kennzeichen des erſten Stils waͤre: eins aber wi-
derſpricht dem andern nicht. Denn wenn ihre Steine, wie itzo, mit dem
Rade geſchnitten worden, wie der Anblick ſelbſt zu geben ſcheinet, ſo war
der leichteſte Weg, im Drehen durch Rundungen eine Figur auszuarbeiten,
und hervor zu bringen, und vermuthlich verſtanden die aͤlteſten Steinſchnei-
der nicht, mit ſehr ſpitzigen Eiſen zu arbeiten: die kugelichten Formen waͤ-
ren alſo kein Grundſatz der Kunſt, ſondern ein Mechaniſcher Weg in der
Arbeit. Die geſchnittenen Steine ihrer erſten Zeiten aber ſind das Gegen-
theil ihrer erſten und aͤlteſten Figuren in Marmor und in Erzt, und es wird
aus jenen offenbar, daß ſich die Verbeſſerung der Kunſt mit einem ſtarken
Ausdrucke, und mit einer empfindlichen Andeutung der Theile an ihren
Figuren angefangen habe, welches ſich auch an einigen Werken in Marmor
zeiget; und dieſes iſt das Kennzeichen der beſten Zeiten ihrer Kunſt.
Um welche Zeit ſich dieſer Stil voͤllig gebildet, laͤßt ſich nicht beſtim-
men, es iſt aber wahrſcheinlich, daß es mit der Verbeſſerung der Griechi-
ſchen Kunſt zu gleicher Zeit eingetroffen ſey. Denn man kann ſich die Zeit
vor und unter dem Phidias, wie die Wiederherſtellung der Kuͤnſte und
Wiſſenſchaften in neueren Zeiten, vorſtellen, welche nicht in einem einzigen
Lande allein anfieng, und ſich in andere Laͤnder ausbreitete, ſondern die
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werden, und die großen Erfindungen thaten ſich mit einmal hervor. In
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/158>, abgerufen am 28.07.2024.
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