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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
andern Theile des Körpers überhin gegangen. Die äußersten Theile sind
nicht schwerer in der Moral, wo die äußerste Tugend mit dem Laster grän-
zet, als in der Kunst, wo sich in denselben das Verständniß des Schönen
des Künstlers zeiget. Aber die Zeit und die Wuth der Menschen hat uns
von schönen Füßen wenige, von schönen Händen in Marmor keine einzige
übrig gelassen. Diese sind an der Mediceischen Venus völlig neu, woraus
das ungelehrte Urtheil derjenigen erhellet, die in den Händen, welche sie
für alt angesehen, Fehler gefunden. Eben diese Beschaffenheit hat es
mit den Armen unter dem Ellenbogen des Apollo in Belvedere.

Die Schönheit einer jugendlichen Hand bestehet in einer sehr mäßigen
Völligkeit, mit kaum merklich gesenkten Spuren, nach Art sanfter Be-
schattungen, über die Knöchel der Finger, wo auf völligen Händen Grüb-
gen sind. Die Finger sind mit einer lieblichen Verjüngung, wie wohlge-
stallte Säulen gezogen, und in der Kunst, ohne Anzeige der Gelenke der
Glieder; das äußerste Glied ist nicht, wie bey den neuern Künstlern,
vorne übergebogen.

Ein schöner Fuß war mehr sichtbar, als bey uns, und je weniger der-
selbe gepresset war, desto wohlgebildeter war dessen Form, welche bey den
Alten genau beobachtet wurde; wie aus den besondern Bemerkungen der
alten Weisen über die Füße, und aus ihren Schlüssen auf die Gemüthsnei-
gung erhellet 1). Es werden daher in Beschreibungen schöner Personen,
wie der Polyxena 2), und der Aspasia 3), auch ihre schöne Füße angefüh-
ret, und die schlechten Füße Kaisers Domitianus 4) sind auch in der Ge-
schichte bemerket. Die Nägel sind an den Füßen der Alten platter, als an
neuern Statuen.

Eine
1) Aristot. Phusiognom. L. 1. p. 147. l. 8. L. 2. p. 187. l. 26. ed. Sylb.
2) Dares Phryg. c. 13.
3) Aelian. Var. hist. L. 12. c. 1.
4) Sueton. Domit.

I Theil. Viertes Capitel.
andern Theile des Koͤrpers uͤberhin gegangen. Die aͤußerſten Theile ſind
nicht ſchwerer in der Moral, wo die aͤußerſte Tugend mit dem Laſter graͤn-
zet, als in der Kunſt, wo ſich in denſelben das Verſtaͤndniß des Schoͤnen
des Kuͤnſtlers zeiget. Aber die Zeit und die Wuth der Menſchen hat uns
von ſchoͤnen Fuͤßen wenige, von ſchoͤnen Haͤnden in Marmor keine einzige
uͤbrig gelaſſen. Dieſe ſind an der Mediceiſchen Venus voͤllig neu, woraus
das ungelehrte Urtheil derjenigen erhellet, die in den Haͤnden, welche ſie
fuͤr alt angeſehen, Fehler gefunden. Eben dieſe Beſchaffenheit hat es
mit den Armen unter dem Ellenbogen des Apollo in Belvedere.

Die Schoͤnheit einer jugendlichen Hand beſtehet in einer ſehr maͤßigen
Voͤlligkeit, mit kaum merklich geſenkten Spuren, nach Art ſanfter Be-
ſchattungen, uͤber die Knoͤchel der Finger, wo auf voͤlligen Haͤnden Gruͤb-
gen ſind. Die Finger ſind mit einer lieblichen Verjuͤngung, wie wohlge-
ſtallte Saͤulen gezogen, und in der Kunſt, ohne Anzeige der Gelenke der
Glieder; das aͤußerſte Glied iſt nicht, wie bey den neuern Kuͤnſtlern,
vorne uͤbergebogen.

Ein ſchoͤner Fuß war mehr ſichtbar, als bey uns, und je weniger der-
ſelbe gepreſſet war, deſto wohlgebildeter war deſſen Form, welche bey den
Alten genau beobachtet wurde; wie aus den beſondern Bemerkungen der
alten Weiſen uͤber die Fuͤße, und aus ihren Schluͤſſen auf die Gemuͤthsnei-
gung erhellet 1). Es werden daher in Beſchreibungen ſchoͤner Perſonen,
wie der Polyxena 2), und der Aſpaſia 3), auch ihre ſchoͤne Fuͤße angefuͤh-
ret, und die ſchlechten Fuͤße Kaiſers Domitianus 4) ſind auch in der Ge-
ſchichte bemerket. Die Naͤgel ſind an den Fuͤßen der Alten platter, als an
neuern Statuen.

Eine
1) Ariſtot. Φυσιογνωμ. L. 1. p. 147. l. 8. L. 2. p. 187. l. 26. ed. Sylb.
2) Dares Phryg. c. 13.
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[182/0232] I Theil. Viertes Capitel. andern Theile des Koͤrpers uͤberhin gegangen. Die aͤußerſten Theile ſind nicht ſchwerer in der Moral, wo die aͤußerſte Tugend mit dem Laſter graͤn- zet, als in der Kunſt, wo ſich in denſelben das Verſtaͤndniß des Schoͤnen des Kuͤnſtlers zeiget. Aber die Zeit und die Wuth der Menſchen hat uns von ſchoͤnen Fuͤßen wenige, von ſchoͤnen Haͤnden in Marmor keine einzige uͤbrig gelaſſen. Dieſe ſind an der Mediceiſchen Venus voͤllig neu, woraus das ungelehrte Urtheil derjenigen erhellet, die in den Haͤnden, welche ſie fuͤr alt angeſehen, Fehler gefunden. Eben dieſe Beſchaffenheit hat es mit den Armen unter dem Ellenbogen des Apollo in Belvedere. Die Schoͤnheit einer jugendlichen Hand beſtehet in einer ſehr maͤßigen Voͤlligkeit, mit kaum merklich geſenkten Spuren, nach Art ſanfter Be- ſchattungen, uͤber die Knoͤchel der Finger, wo auf voͤlligen Haͤnden Gruͤb- gen ſind. Die Finger ſind mit einer lieblichen Verjuͤngung, wie wohlge- ſtallte Saͤulen gezogen, und in der Kunſt, ohne Anzeige der Gelenke der Glieder; das aͤußerſte Glied iſt nicht, wie bey den neuern Kuͤnſtlern, vorne uͤbergebogen. Ein ſchoͤner Fuß war mehr ſichtbar, als bey uns, und je weniger der- ſelbe gepreſſet war, deſto wohlgebildeter war deſſen Form, welche bey den Alten genau beobachtet wurde; wie aus den beſondern Bemerkungen der alten Weiſen uͤber die Fuͤße, und aus ihren Schluͤſſen auf die Gemuͤthsnei- gung erhellet 1). Es werden daher in Beſchreibungen ſchoͤner Perſonen, wie der Polyxena 2), und der Aſpaſia 3), auch ihre ſchoͤne Fuͤße angefuͤh- ret, und die ſchlechten Fuͤße Kaiſers Domitianus 4) ſind auch in der Ge- ſchichte bemerket. Die Naͤgel ſind an den Fuͤßen der Alten platter, als an neuern Statuen. Eine 1) Ariſtot. Φυσιογνωμ. L. 1. p. 147. l. 8. L. 2. p. 187. l. 26. ed. Sylb. 2) Dares Phryg. c. 13. 3) Aelian. Var. hiſt. L. 12. c. 1. 4) Sueton. Domit.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/232>, abgerufen am 26.11.2024.