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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Aegyptern etc.
ptische Antinous von Marmor im Campidoglio, zu merken. Jene sind bey-
nahe noch einmal so groß, als die Natur, und diese ist ebenfalls über Lebeus-
größe. Jene haben den Stand, wie die ältesten Aegyptischen Figuren, und
stehen, wie diese, an einer eckigten Säule, aber ohne Hieroglyphen. Die
Hüften und der Unterleib sind mit einem Schurze bedecket, und der Kopf
hat seine Haube mit zween herunter hängenden Streifen. Diese Aehn-
lichkeit verursachet, daß sie von allen unter die ältesten Werke der Aegypter
gerechnet werden. Auf dem Kopfe tragen sie einen Korb nach Art der
Caryatiden, aus einem Stücke mit der Figur. Das Ganze hat eine
Aegyptische Gestalt, aber die Theile haben nicht die Aegyptische Form.
Die Brust, welche an den ältesten Männlichen Figuren platt lieget, ist
hier mächtig und heldenmäßig erhaben: die Rippen unter der Brust, wel-
che an jenen gar nicht sichtbar sind, erscheinen hier völlig angegeben: der
Leib über den Hüften, welcher dort sehr enge ist, hat hier seine rechte Fülle:
die Glieder und Knorpel der Knie sind hier deutlicher, als dort, gearbeitet:
die Muskeln an den Armen, und an andern Theilen, liegen völlig vor
Augen: die Schulterblätter, welche dort wie ohne Anzeige sind, erheben
sich hier mit einer starken Rundung, und die Füße kommen der Griechi-
schen Form näher. Die größte Verschiedenheit aber lieget in dem Gesichte:
welches weder auf Aegyptische Art gearbeitet, noch sonst ihren Köpfen
ähnlich ist. Die Augen liegen nicht, wie in der Natur, und wie an den
ältesten Aegyptischen Köpfen, fast in gleicher Fläche mit dem Augen-Kno-
chen, sondern sie sind nach dem Systema der Griechischen Kunst tief gesen-
ket, um den Augen-Knochen zu erheben, und Licht und Schatten zu er-
halten. Die Form des Gesichts ist vielmehr Griechisch, und es ist dem
Aegyptischen Antinous völlig ähnlich. Daher muthmaße ich, daß auch
diese Statuen eine Vorstellung desselben auf Aegyptische Art seyn können.
An besagtem Aegyptischen Antinous von Marmor, ist der Griechische Stil
noch deutlicher; es stehet auch derselbe frey, und an keine Säule.

Zu
Winckelm. Gesch der Kunst. H

Von der Kunſt unter den Aegyptern ꝛc.
ptiſche Antinous von Marmor im Campidoglio, zu merken. Jene ſind bey-
nahe noch einmal ſo groß, als die Natur, und dieſe iſt ebenfalls uͤber Lebeus-
groͤße. Jene haben den Stand, wie die aͤlteſten Aegyptiſchen Figuren, und
ſtehen, wie dieſe, an einer eckigten Saͤule, aber ohne Hieroglyphen. Die
Huͤften und der Unterleib ſind mit einem Schurze bedecket, und der Kopf
hat ſeine Haube mit zween herunter haͤngenden Streifen. Dieſe Aehn-
lichkeit verurſachet, daß ſie von allen unter die aͤlteſten Werke der Aegypter
gerechnet werden. Auf dem Kopfe tragen ſie einen Korb nach Art der
Caryatiden, aus einem Stuͤcke mit der Figur. Das Ganze hat eine
Aegyptiſche Geſtalt, aber die Theile haben nicht die Aegyptiſche Form.
Die Bruſt, welche an den aͤlteſten Maͤnnlichen Figuren platt lieget, iſt
hier maͤchtig und heldenmaͤßig erhaben: die Rippen unter der Bruſt, wel-
che an jenen gar nicht ſichtbar ſind, erſcheinen hier voͤllig angegeben: der
Leib uͤber den Huͤften, welcher dort ſehr enge iſt, hat hier ſeine rechte Fuͤlle:
die Glieder und Knorpel der Knie ſind hier deutlicher, als dort, gearbeitet:
die Muskeln an den Armen, und an andern Theilen, liegen voͤllig vor
Augen: die Schulterblaͤtter, welche dort wie ohne Anzeige ſind, erheben
ſich hier mit einer ſtarken Rundung, und die Fuͤße kommen der Griechi-
ſchen Form naͤher. Die groͤßte Verſchiedenheit aber lieget in dem Geſichte:
welches weder auf Aegyptiſche Art gearbeitet, noch ſonſt ihren Koͤpfen
aͤhnlich iſt. Die Augen liegen nicht, wie in der Natur, und wie an den
aͤlteſten Aegyptiſchen Koͤpfen, faſt in gleicher Flaͤche mit dem Augen-Kno-
chen, ſondern ſie ſind nach dem Syſtema der Griechiſchen Kunſt tief geſen-
ket, um den Augen-Knochen zu erheben, und Licht und Schatten zu er-
halten. Die Form des Geſichts iſt vielmehr Griechiſch, und es iſt dem
Aegyptiſchen Antinous voͤllig aͤhnlich. Daher muthmaße ich, daß auch
dieſe Statuen eine Vorſtellung deſſelben auf Aegyptiſche Art ſeyn koͤnnen.
An beſagtem Aegyptiſchen Antinous von Marmor, iſt der Griechiſche Stil
noch deutlicher; es ſtehet auch derſelbe frey, und an keine Saͤule.

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Winckelm. Geſch der Kunſt. H
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[57/0107] Von der Kunſt unter den Aegyptern ꝛc. ptiſche Antinous von Marmor im Campidoglio, zu merken. Jene ſind bey- nahe noch einmal ſo groß, als die Natur, und dieſe iſt ebenfalls uͤber Lebeus- groͤße. Jene haben den Stand, wie die aͤlteſten Aegyptiſchen Figuren, und ſtehen, wie dieſe, an einer eckigten Saͤule, aber ohne Hieroglyphen. Die Huͤften und der Unterleib ſind mit einem Schurze bedecket, und der Kopf hat ſeine Haube mit zween herunter haͤngenden Streifen. Dieſe Aehn- lichkeit verurſachet, daß ſie von allen unter die aͤlteſten Werke der Aegypter gerechnet werden. Auf dem Kopfe tragen ſie einen Korb nach Art der Caryatiden, aus einem Stuͤcke mit der Figur. Das Ganze hat eine Aegyptiſche Geſtalt, aber die Theile haben nicht die Aegyptiſche Form. Die Bruſt, welche an den aͤlteſten Maͤnnlichen Figuren platt lieget, iſt hier maͤchtig und heldenmaͤßig erhaben: die Rippen unter der Bruſt, wel- che an jenen gar nicht ſichtbar ſind, erſcheinen hier voͤllig angegeben: der Leib uͤber den Huͤften, welcher dort ſehr enge iſt, hat hier ſeine rechte Fuͤlle: die Glieder und Knorpel der Knie ſind hier deutlicher, als dort, gearbeitet: die Muskeln an den Armen, und an andern Theilen, liegen voͤllig vor Augen: die Schulterblaͤtter, welche dort wie ohne Anzeige ſind, erheben ſich hier mit einer ſtarken Rundung, und die Fuͤße kommen der Griechi- ſchen Form naͤher. Die groͤßte Verſchiedenheit aber lieget in dem Geſichte: welches weder auf Aegyptiſche Art gearbeitet, noch ſonſt ihren Koͤpfen aͤhnlich iſt. Die Augen liegen nicht, wie in der Natur, und wie an den aͤlteſten Aegyptiſchen Koͤpfen, faſt in gleicher Flaͤche mit dem Augen-Kno- chen, ſondern ſie ſind nach dem Syſtema der Griechiſchen Kunſt tief geſen- ket, um den Augen-Knochen zu erheben, und Licht und Schatten zu er- halten. Die Form des Geſichts iſt vielmehr Griechiſch, und es iſt dem Aegyptiſchen Antinous voͤllig aͤhnlich. Daher muthmaße ich, daß auch dieſe Statuen eine Vorſtellung deſſelben auf Aegyptiſche Art ſeyn koͤnnen. An beſagtem Aegyptiſchen Antinous von Marmor, iſt der Griechiſche Stil noch deutlicher; es ſtehet auch derſelbe frey, und an keine Saͤule. Zu Winckelm. Geſch der Kunſt. H

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/107>, abgerufen am 23.12.2024.