Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ich fragen, welchen Eindruck meine Mittheilung auf Sie gemacht? Louis stand auf, er war sehr bleich, aber aus seinem Blicke sprach keine Furcht. Tödten Sie mich, sagte er, Sie können es ja. Vater und Sohn, es ist am besten so! Der Graf schwieg einen Augenblick. Leonie erhob sich geräuschlos und glitt leise hinter seinen Stuhl. Aber er schien ihre Bewegung zu ahnen, denn, ohne das Gesicht nach ihr zu wenden, schloßen sich seine Finger enger um das Kästchen. Wenn ich Sie tödten wollte, sagte er dann, sich ebenfalls erhebend, so hätte ich es gleich gethan, bevor ich Ihnen das Geheimnis meines Lebens anvertraut. Aber es ist etwas in Ihnen, das ich achten und schonen muß: das ist das Blut Ihrer Mutter, und an dieses wende ich mich. Sie wissen nun, zu welchen Verbrechen eine That führen kann, die Sie bis jetzt nur im Lichte der Leidenschaft gesehen. Sie wissen, daß Sie ein Weib lieben, das vielleicht Ihre Schwester ist. Dieses Weib habe ich als meine Tochter erzogen und seine zweifelhafte Geburt mit meinem Namen und mit meiner Ehre gedeckt. Als meine Tochter hat ein Ehrenmann Leonie aus meinen Händen erhalten und das Glück seines Lebens auf sie gebaut. Sie ist zu ihrer Wahl nicht gezwungen worden. Armuth und Sorge, welche ihre Mutter drängen mochten, hat die Tochter nie gekannt, und in vollkommener Freiheit hat sie unter allen Männern, die um sie warben, allen meinen Warnungen entgegen, sich ihrem Gatten zugewandt. Für ihr Glück habe ich somit gethan, was ich vermochte, und ihr gegenüber ist meine Rechnung geschlossen -- aber gegen ihren Mann habe ich eine Verpflichtung: er hat mir geglaubt, und sein Glaube soll nicht getäuscht werden. Dann habe ich noch einen andern Grund: Otto hat Sie schon einmal in Verdacht gehabt, und ich habe keinen zweiten Sohn. -- Und darum, Herr Marquis, ich fragen, welchen Eindruck meine Mittheilung auf Sie gemacht? Louis stand auf, er war sehr bleich, aber aus seinem Blicke sprach keine Furcht. Tödten Sie mich, sagte er, Sie können es ja. Vater und Sohn, es ist am besten so! Der Graf schwieg einen Augenblick. Leonie erhob sich geräuschlos und glitt leise hinter seinen Stuhl. Aber er schien ihre Bewegung zu ahnen, denn, ohne das Gesicht nach ihr zu wenden, schloßen sich seine Finger enger um das Kästchen. Wenn ich Sie tödten wollte, sagte er dann, sich ebenfalls erhebend, so hätte ich es gleich gethan, bevor ich Ihnen das Geheimnis meines Lebens anvertraut. Aber es ist etwas in Ihnen, das ich achten und schonen muß: das ist das Blut Ihrer Mutter, und an dieses wende ich mich. Sie wissen nun, zu welchen Verbrechen eine That führen kann, die Sie bis jetzt nur im Lichte der Leidenschaft gesehen. Sie wissen, daß Sie ein Weib lieben, das vielleicht Ihre Schwester ist. Dieses Weib habe ich als meine Tochter erzogen und seine zweifelhafte Geburt mit meinem Namen und mit meiner Ehre gedeckt. Als meine Tochter hat ein Ehrenmann Leonie aus meinen Händen erhalten und das Glück seines Lebens auf sie gebaut. Sie ist zu ihrer Wahl nicht gezwungen worden. Armuth und Sorge, welche ihre Mutter drängen mochten, hat die Tochter nie gekannt, und in vollkommener Freiheit hat sie unter allen Männern, die um sie warben, allen meinen Warnungen entgegen, sich ihrem Gatten zugewandt. Für ihr Glück habe ich somit gethan, was ich vermochte, und ihr gegenüber ist meine Rechnung geschlossen — aber gegen ihren Mann habe ich eine Verpflichtung: er hat mir geglaubt, und sein Glaube soll nicht getäuscht werden. Dann habe ich noch einen andern Grund: Otto hat Sie schon einmal in Verdacht gehabt, und ich habe keinen zweiten Sohn. — Und darum, Herr Marquis, <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0206"/> ich fragen, welchen Eindruck meine Mittheilung auf Sie gemacht?</p><lb/> <p>Louis stand auf, er war sehr bleich, aber aus seinem Blicke sprach keine Furcht. Tödten Sie mich, sagte er, Sie können es ja. Vater und Sohn, es ist am besten so!</p><lb/> <p>Der Graf schwieg einen Augenblick. Leonie erhob sich geräuschlos und glitt leise hinter seinen Stuhl. 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Armuth und Sorge, welche ihre Mutter drängen mochten, hat die Tochter nie gekannt, und in vollkommener Freiheit hat sie unter allen Männern, die um sie warben, allen meinen Warnungen entgegen, sich ihrem Gatten zugewandt. Für ihr Glück habe ich somit gethan, was ich vermochte, und ihr gegenüber ist meine Rechnung geschlossen — aber gegen ihren Mann habe ich eine Verpflichtung: er hat mir geglaubt, und sein Glaube soll nicht getäuscht werden.</p><lb/> <p>Dann habe ich noch einen andern Grund: Otto hat Sie schon einmal in Verdacht gehabt, und ich habe keinen zweiten Sohn. — Und darum, Herr Marquis,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0206]
ich fragen, welchen Eindruck meine Mittheilung auf Sie gemacht?
Louis stand auf, er war sehr bleich, aber aus seinem Blicke sprach keine Furcht. Tödten Sie mich, sagte er, Sie können es ja. Vater und Sohn, es ist am besten so!
Der Graf schwieg einen Augenblick. Leonie erhob sich geräuschlos und glitt leise hinter seinen Stuhl. Aber er schien ihre Bewegung zu ahnen, denn, ohne das Gesicht nach ihr zu wenden, schloßen sich seine Finger enger um das Kästchen.
Wenn ich Sie tödten wollte, sagte er dann, sich ebenfalls erhebend, so hätte ich es gleich gethan, bevor ich Ihnen das Geheimnis meines Lebens anvertraut. Aber es ist etwas in Ihnen, das ich achten und schonen muß: das ist das Blut Ihrer Mutter, und an dieses wende ich mich. Sie wissen nun, zu welchen Verbrechen eine That führen kann, die Sie bis jetzt nur im Lichte der Leidenschaft gesehen. Sie wissen, daß Sie ein Weib lieben, das vielleicht Ihre Schwester ist. Dieses Weib habe ich als meine Tochter erzogen und seine zweifelhafte Geburt mit meinem Namen und mit meiner Ehre gedeckt. Als meine Tochter hat ein Ehrenmann Leonie aus meinen Händen erhalten und das Glück seines Lebens auf sie gebaut. Sie ist zu ihrer Wahl nicht gezwungen worden. Armuth und Sorge, welche ihre Mutter drängen mochten, hat die Tochter nie gekannt, und in vollkommener Freiheit hat sie unter allen Männern, die um sie warben, allen meinen Warnungen entgegen, sich ihrem Gatten zugewandt. Für ihr Glück habe ich somit gethan, was ich vermochte, und ihr gegenüber ist meine Rechnung geschlossen — aber gegen ihren Mann habe ich eine Verpflichtung: er hat mir geglaubt, und sein Glaube soll nicht getäuscht werden.
Dann habe ich noch einen andern Grund: Otto hat Sie schon einmal in Verdacht gehabt, und ich habe keinen zweiten Sohn. — Und darum, Herr Marquis,
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/206>, abgerufen am 17.07.2024. |