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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sie kennen das Fräulein wohl nicht? frug Otto, von solcher Kälte überrascht.

O doch! versetzte der Marquis. Aber Otto sah, daß hier an keine Theilnahme für seine jugendlichen Gefühlsergüsse zu denken war, und sein neuer Bekannter verlor alles Interesse für ihn.

Mit unendlicher Liebenswürdigkeit, die sich für jeden Neuangekommenen immer neu zu verjüngen schien, machte Leonie indessen die Honneurs ihres Hauses. Ihr Vater war eingetroffen, und sie war froh sich ihm in einem neuen, vortheilhaften Lichte zu zeigen. Der Gedanke, das Louis durch seine Bekanntschaft mit Otto nun festeren Fuß in ihrem Hause gefaßt, machte ihr Herz glücklich und leicht. Einmal flogen ihre Augen nach der Stelle hin, wo Louis neben ihrem Bruder stand. Seine Stirn war umwölkt. Was mag er haben? dachte sie, aber sie konnte jetzt nicht zu ihm hin, und sie wagte es auch nicht; ihr Vater stand nur einige Schritte von ihr entfernt. Durch Otto sollte er ihm vorgestellt werden und nicht durch sie. Plötzlich legte sich eine heiße Hand auf ihre nackte Schulter. Ueberrascht drehte sie sich um; es war der alte Graf, der neben ihr stand, aber so bleich und finster, das die schuldbewußte Frau bis in den tiefsten Grund ihrer Seele erschrak.

Wer ist der junge Mann? frug er mit erstickter Stimme, auf Louis weisend.

Leonie zerdrückte fast den Fächer in ihrer Hand. Welcher? frug sie so ruhig als sie nur konnte.

Derjenige, der mit Otto spricht, sagte ihr Vater mit mühsamer Anstrengung.

Sie fühlte sich erblassen, aber sie faßte all ihren Muth zusammen und antwortete: Es ist ein Emigrirter, ein Marquis de Chanteloup.

Ein Seufzer hob des Grafen Brust; Leonie blickte zitternd auf, seine Stirn war von Schweiß bedeckt. Sie spielte mit dem Fächer, sie fühlte ihr Haar sich

Sie kennen das Fräulein wohl nicht? frug Otto, von solcher Kälte überrascht.

O doch! versetzte der Marquis. Aber Otto sah, daß hier an keine Theilnahme für seine jugendlichen Gefühlsergüsse zu denken war, und sein neuer Bekannter verlor alles Interesse für ihn.

Mit unendlicher Liebenswürdigkeit, die sich für jeden Neuangekommenen immer neu zu verjüngen schien, machte Leonie indessen die Honneurs ihres Hauses. Ihr Vater war eingetroffen, und sie war froh sich ihm in einem neuen, vortheilhaften Lichte zu zeigen. Der Gedanke, das Louis durch seine Bekanntschaft mit Otto nun festeren Fuß in ihrem Hause gefaßt, machte ihr Herz glücklich und leicht. Einmal flogen ihre Augen nach der Stelle hin, wo Louis neben ihrem Bruder stand. Seine Stirn war umwölkt. Was mag er haben? dachte sie, aber sie konnte jetzt nicht zu ihm hin, und sie wagte es auch nicht; ihr Vater stand nur einige Schritte von ihr entfernt. Durch Otto sollte er ihm vorgestellt werden und nicht durch sie. Plötzlich legte sich eine heiße Hand auf ihre nackte Schulter. Ueberrascht drehte sie sich um; es war der alte Graf, der neben ihr stand, aber so bleich und finster, das die schuldbewußte Frau bis in den tiefsten Grund ihrer Seele erschrak.

Wer ist der junge Mann? frug er mit erstickter Stimme, auf Louis weisend.

Leonie zerdrückte fast den Fächer in ihrer Hand. Welcher? frug sie so ruhig als sie nur konnte.

Derjenige, der mit Otto spricht, sagte ihr Vater mit mühsamer Anstrengung.

Sie fühlte sich erblassen, aber sie faßte all ihren Muth zusammen und antwortete: Es ist ein Emigrirter, ein Marquis de Chanteloup.

Ein Seufzer hob des Grafen Brust; Leonie blickte zitternd auf, seine Stirn war von Schweiß bedeckt. Sie spielte mit dem Fächer, sie fühlte ihr Haar sich

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[0119] Sie kennen das Fräulein wohl nicht? frug Otto, von solcher Kälte überrascht. O doch! versetzte der Marquis. Aber Otto sah, daß hier an keine Theilnahme für seine jugendlichen Gefühlsergüsse zu denken war, und sein neuer Bekannter verlor alles Interesse für ihn. Mit unendlicher Liebenswürdigkeit, die sich für jeden Neuangekommenen immer neu zu verjüngen schien, machte Leonie indessen die Honneurs ihres Hauses. Ihr Vater war eingetroffen, und sie war froh sich ihm in einem neuen, vortheilhaften Lichte zu zeigen. Der Gedanke, das Louis durch seine Bekanntschaft mit Otto nun festeren Fuß in ihrem Hause gefaßt, machte ihr Herz glücklich und leicht. Einmal flogen ihre Augen nach der Stelle hin, wo Louis neben ihrem Bruder stand. Seine Stirn war umwölkt. Was mag er haben? dachte sie, aber sie konnte jetzt nicht zu ihm hin, und sie wagte es auch nicht; ihr Vater stand nur einige Schritte von ihr entfernt. Durch Otto sollte er ihm vorgestellt werden und nicht durch sie. Plötzlich legte sich eine heiße Hand auf ihre nackte Schulter. Ueberrascht drehte sie sich um; es war der alte Graf, der neben ihr stand, aber so bleich und finster, das die schuldbewußte Frau bis in den tiefsten Grund ihrer Seele erschrak. Wer ist der junge Mann? frug er mit erstickter Stimme, auf Louis weisend. Leonie zerdrückte fast den Fächer in ihrer Hand. Welcher? frug sie so ruhig als sie nur konnte. Derjenige, der mit Otto spricht, sagte ihr Vater mit mühsamer Anstrengung. Sie fühlte sich erblassen, aber sie faßte all ihren Muth zusammen und antwortete: Es ist ein Emigrirter, ein Marquis de Chanteloup. Ein Seufzer hob des Grafen Brust; Leonie blickte zitternd auf, seine Stirn war von Schweiß bedeckt. Sie spielte mit dem Fächer, sie fühlte ihr Haar sich

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/119>, abgerufen am 27.11.2024.