heimholung, oder des Aigimios ritterspiegel, war die kluft allzugross: weder konnte der spielmann ritterbürtig werden, noch der herr mehr für die dichtung tun, als dass er etwa dem dichter die geschichten von seinen und seines volkes ahnen erzählte und gute bezahlung gab, damit jener sie in homerische verse setzte und etwa eine Mekionike in die reihe der er- habenen götterfrauen aufnähme, die aus himmlischem samen die ahnherrn der erlauchten häuser geboren hatten. das epos hat im mutterlande un- endlich viel für die erhaltung des stoffes gewirkt. aber es hat nur den boden für eine wirklich nationale poesie vorbereitet: selbst ist es immer etwas halbfremdes und ich möchte sagen halbfreies geblieben.
Iambos und elegie.
In Ionien vollzog sich nun aber in eben den jahrhunderten 7 und 6 eine gewaltige verschiebung aller schichten der gesellschaft und der cultur. hier gieng das rittertum zu grunde durch das bürgertum der grossen handelsstädte. zwar behauptete sich, auch wenn der name demokratie war, durchweg ein bevorrechteter stand, welcher den grössten besitz mit der höchsten bildung verband; allein es stieg fortwährend frisches blut von unten empor in die bevorrechteten kreise. jedes geistige schaffen aber nahmen diese selbst in die hand; die handwerksmässige pflege der homerischen poesie blieb, aber immer weniger productiv und immer weniger geachtet. es wehte ein scharfer wind. weithin übers meer zogen die schiffe, weiterhin ins ungemessene die gedanken. aus der tiefe des arbeitenden volkes stiegen rücksichtslose wagemutige männer auf, die durch die kraft der eignen faust und des eignen kopfes sich eine stellung schufen, die herrschenden gewalten bezwangen und ihr volk befreiten bevormundeten bedrückten. aus den tiefen des menschen- herzens stiegen die ewigen gefühle, des menschenherzens unendlichkeiten in wonne und weh, des menschengeistes qualen in antwortlosem fragen nach den ewigen rätseln der welt auf die lippen empor. der mann, der im rat und auf dem markte der erste war, trat vor das volk oder den vertrauten kreis in der halle des marktes, auf den stufen des gotteshauses, im saale des festgelages, und sprach sie an aus eigner seele in eignem namen. er erzählte nicht von Giganten und längst vermoderten ahn- herrn, sondern von der gegenwart, schalt der bürger lässigkeit, warnte vor der gefahr, schleuderte dem gegner den schimpf entgegen, oder auch er sagte, was ihn das eigne denken gelehrt, wie die welt geworden, was des lebens wert sei, und tausend weise sprüche. die form war bald die aus dem ältesten urbesitze des volkes emporgeholte und durchaus volks- tümliche des iambos, oder die kunstmässig aus dem epos abgeleitete ele- gische strophe. aber auch in dieser bemeisterte die gegenwärtige sprache
Was ist eine attische tragödie?
heimholung, oder des Aigimios ritterspiegel, war die kluft allzugroſs: weder konnte der spielmann ritterbürtig werden, noch der herr mehr für die dichtung tun, als daſs er etwa dem dichter die geschichten von seinen und seines volkes ahnen erzählte und gute bezahlung gab, damit jener sie in homerische verse setzte und etwa eine Mekionike in die reihe der er- habenen götterfrauen aufnähme, die aus himmlischem samen die ahnherrn der erlauchten häuser geboren hatten. das epos hat im mutterlande un- endlich viel für die erhaltung des stoffes gewirkt. aber es hat nur den boden für eine wirklich nationale poesie vorbereitet: selbst ist es immer etwas halbfremdes und ich möchte sagen halbfreies geblieben.
Iambos und elegie.
In Ionien vollzog sich nun aber in eben den jahrhunderten 7 und 6 eine gewaltige verschiebung aller schichten der gesellschaft und der cultur. hier gieng das rittertum zu grunde durch das bürgertum der groſsen handelsstädte. zwar behauptete sich, auch wenn der name demokratie war, durchweg ein bevorrechteter stand, welcher den gröſsten besitz mit der höchsten bildung verband; allein es stieg fortwährend frisches blut von unten empor in die bevorrechteten kreise. jedes geistige schaffen aber nahmen diese selbst in die hand; die handwerksmäſsige pflege der homerischen poesie blieb, aber immer weniger productiv und immer weniger geachtet. es wehte ein scharfer wind. weithin übers meer zogen die schiffe, weiterhin ins ungemessene die gedanken. aus der tiefe des arbeitenden volkes stiegen rücksichtslose wagemutige männer auf, die durch die kraft der eignen faust und des eignen kopfes sich eine stellung schufen, die herrschenden gewalten bezwangen und ihr volk befreiten bevormundeten bedrückten. aus den tiefen des menschen- herzens stiegen die ewigen gefühle, des menschenherzens unendlichkeiten in wonne und weh, des menschengeistes qualen in antwortlosem fragen nach den ewigen rätseln der welt auf die lippen empor. der mann, der im rat und auf dem markte der erste war, trat vor das volk oder den vertrauten kreis in der halle des marktes, auf den stufen des gotteshauses, im saale des festgelages, und sprach sie an aus eigner seele in eignem namen. er erzählte nicht von Giganten und längst vermoderten ahn- herrn, sondern von der gegenwart, schalt der bürger lässigkeit, warnte vor der gefahr, schleuderte dem gegner den schimpf entgegen, oder auch er sagte, was ihn das eigne denken gelehrt, wie die welt geworden, was des lebens wert sei, und tausend weise sprüche. die form war bald die aus dem ältesten urbesitze des volkes emporgeholte und durchaus volks- tümliche des iambos, oder die kunstmäſsig aus dem epos abgeleitete ele- gische strophe. aber auch in dieser bemeisterte die gegenwärtige sprache
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Was ist eine attische tragödie?
heimholung, oder des Aigimios ritterspiegel, war die kluft allzugroſs: weder
konnte der spielmann ritterbürtig werden, noch der herr mehr für die
dichtung tun, als daſs er etwa dem dichter die geschichten von seinen und
seines volkes ahnen erzählte und gute bezahlung gab, damit jener sie in
homerische verse setzte und etwa eine Mekionike in die reihe der er-
habenen götterfrauen aufnähme, die aus himmlischem samen die ahnherrn
der erlauchten häuser geboren hatten. das epos hat im mutterlande un-
endlich viel für die erhaltung des stoffes gewirkt. aber es hat nur den
boden für eine wirklich nationale poesie vorbereitet: selbst ist es immer
etwas halbfremdes und ich möchte sagen halbfreies geblieben.
In Ionien vollzog sich nun aber in eben den jahrhunderten 7 und 6
eine gewaltige verschiebung aller schichten der gesellschaft und der cultur.
hier gieng das rittertum zu grunde durch das bürgertum der groſsen
handelsstädte. zwar behauptete sich, auch wenn der name demokratie
war, durchweg ein bevorrechteter stand, welcher den gröſsten besitz mit
der höchsten bildung verband; allein es stieg fortwährend frisches blut
von unten empor in die bevorrechteten kreise. jedes geistige schaffen
aber nahmen diese selbst in die hand; die handwerksmäſsige pflege der
homerischen poesie blieb, aber immer weniger productiv und immer
weniger geachtet. es wehte ein scharfer wind. weithin übers meer
zogen die schiffe, weiterhin ins ungemessene die gedanken. aus der
tiefe des arbeitenden volkes stiegen rücksichtslose wagemutige männer
auf, die durch die kraft der eignen faust und des eignen kopfes sich
eine stellung schufen, die herrschenden gewalten bezwangen und ihr
volk befreiten bevormundeten bedrückten. aus den tiefen des menschen-
herzens stiegen die ewigen gefühle, des menschenherzens unendlichkeiten
in wonne und weh, des menschengeistes qualen in antwortlosem fragen
nach den ewigen rätseln der welt auf die lippen empor. der mann, der
im rat und auf dem markte der erste war, trat vor das volk oder den
vertrauten kreis in der halle des marktes, auf den stufen des gotteshauses,
im saale des festgelages, und sprach sie an aus eigner seele in eignem
namen. er erzählte nicht von Giganten und längst vermoderten ahn-
herrn, sondern von der gegenwart, schalt der bürger lässigkeit, warnte
vor der gefahr, schleuderte dem gegner den schimpf entgegen, oder auch
er sagte, was ihn das eigne denken gelehrt, wie die welt geworden, was
des lebens wert sei, und tausend weise sprüche. die form war bald die
aus dem ältesten urbesitze des volkes emporgeholte und durchaus volks-
tümliche des iambos, oder die kunstmäſsig aus dem epos abgeleitete ele-
gische strophe. aber auch in dieser bemeisterte die gegenwärtige sprache
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/88>, abgerufen am 05.07.2024.
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