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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Das ionische epos wandert in Hellas ein.
andlere ionische ware auch; die rhapsoden, die zuwanderten, verdienten
sich mit seinem vertriebe ihr brot. sehr früh muss dieser verkehr be-
gomnen haben, lange ehe ein bauernsohn in Askra aus eignem drange
sich dem dichterberufe in den fremden formen hingeben konnte. und
die empfänglichkeit der hörer muss eine grosse gewesen sein, da sie
sich diese fremde dichtung nicht nur angeeignet haben, sondern ihre
ganze eigne dichtung auf ihr aufgebaut. die neuen völkerschaften, die
sich im mutterlande aus der mischung von eingewanderten herrn und
alteingesessenen untertanen und knechten gebildet hatten, besassen zwar
einen reichen schatz von nationaler überlieferung, aber sie hatten noch
keime lebenskräftige poesie. der gehalt war da: das gefäss fehlte. nun
kam ein solches völlig fertig aus Ionien, und es kostete verhältnismässig
wenig mühe, den neuen wein der festländischen sage hineinzugiessen.
die sagen, welche den inhalt des importirten epos ausgemacht hatten,
wurden freilich auch übernommen, wirkten als kräftigstes ferment auch
für die ausgestaltung der neuen epik mit, mussten sich aber dafür mannig-
fache umformungen gefallen lassen. die kunstform, versmass, sprache,
stil, blieb; was sich darin änderte, geschah unwillkürlich und den ändern-
den unbewusst. so erlebt denn das homerische epos im mutterlande
während der jahrhunderte 750--550 eine neue blüte, mochte es in seiner
heimat gleichzeitig auch immer mehr zurücktreten. auch die sage der
Peloponnesier und der amphiktionischen völkergruppe schlug sich noch
in epischer form nieder; nur in die westlichen colonien ist das epos
nicht mehr gelangt. es sind wesentlich die culturkreise von Chalkis Del-
phoi Korinth Argos, welche sich seiner pflege widmen. übrigens bleibt
die dichtkunst durchaus in den händen der handwerksmässigen sänger.
noch viel stärker als der Ionier musste der Peloponnesier empfinden,
dass er sich eine fremde mundart und ausdrucksweise aneignen sollte,
um die taten seiner vorfahren und die idealbilder seiner eignen phantasie
den landsleuten vorzuführen. und für uns büsst, wer immer es versucht,
so ziemlich seine heimische nationalität zu gunsten der internationalen
homerischen oder hesiodischen weise ein: erscheint doch Hesiodos selbst
beinahe als ein Homeride. dieser umstand hat vielleicht ein wenig dazu
mitgewirkt, dass die herrschende gesellschaft, die dorischen oder chalkidi-
schem ritter, selbst an der pflege des epos nicht hand anlegen. aber das
ward noch durch etwas viel eingreifenderes gehindert, durch das standes-
gefühl. zwischen dem adlichen burgherrn und dem fahrenden spielmann,
den er sich dang, dass er in der halle eine schöne mär sagte, von Ilios
oder Theben, lieber noch eine von Herakles und Kyknos, oder von Medeias

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Das ionische epos wandert in Hellas ein.
andlere ionische ware auch; die rhapsoden, die zuwanderten, verdienten
sich mit seinem vertriebe ihr brot. sehr früh muſs dieser verkehr be-
gomnen haben, lange ehe ein bauernsohn in Askra aus eignem drange
sich dem dichterberufe in den fremden formen hingeben konnte. und
die empfänglichkeit der hörer muſs eine groſse gewesen sein, da sie
sich diese fremde dichtung nicht nur angeeignet haben, sondern ihre
ganze eigne dichtung auf ihr aufgebaut. die neuen völkerschaften, die
sich im mutterlande aus der mischung von eingewanderten herrn und
alteingesessenen untertanen und knechten gebildet hatten, besaſsen zwar
einen reichen schatz von nationaler überlieferung, aber sie hatten noch
keime lebenskräftige poesie. der gehalt war da: das gefäſs fehlte. nun
kam ein solches völlig fertig aus Ionien, und es kostete verhältnismäſsig
wenig mühe, den neuen wein der festländischen sage hineinzugieſsen.
die sagen, welche den inhalt des importirten epos ausgemacht hatten,
wurden freilich auch übernommen, wirkten als kräftigstes ferment auch
für die ausgestaltung der neuen epik mit, muſsten sich aber dafür mannig-
fache umformungen gefallen lassen. die kunstform, versmaſs, sprache,
stil, blieb; was sich darin änderte, geschah unwillkürlich und den ändern-
den unbewuſst. so erlebt denn das homerische epos im mutterlande
während der jahrhunderte 750—550 eine neue blüte, mochte es in seiner
heimat gleichzeitig auch immer mehr zurücktreten. auch die sage der
Peloponnesier und der amphiktionischen völkergruppe schlug sich noch
in epischer form nieder; nur in die westlichen colonien ist das epos
nicht mehr gelangt. es sind wesentlich die culturkreise von Chalkis Del-
phoi Korinth Argos, welche sich seiner pflege widmen. übrigens bleibt
die dichtkunst durchaus in den händen der handwerksmäſsigen sänger.
noch viel stärker als der Ionier muſste der Peloponnesier empfinden,
daſs er sich eine fremde mundart und ausdrucksweise aneignen sollte,
um die taten seiner vorfahren und die idealbilder seiner eignen phantasie
den landsleuten vorzuführen. und für uns büſst, wer immer es versucht,
so ziemlich seine heimische nationalität zu gunsten der internationalen
homerischen oder hesiodischen weise ein: erscheint doch Hesiodos selbst
beinahe als ein Homeride. dieser umstand hat vielleicht ein wenig dazu
mitgewirkt, daſs die herrschende gesellschaft, die dorischen oder chalkidi-
schem ritter, selbst an der pflege des epos nicht hand anlegen. aber das
ward noch durch etwas viel eingreifenderes gehindert, durch das standes-
gefühl. zwischen dem adlichen burgherrn und dem fahrenden spielmann,
den er sich dang, daſs er in der halle eine schöne mär sagte, von Ilios
oder Theben, lieber noch eine von Herakles und Kyknos, oder von Medeias

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[67/0087] Das ionische epos wandert in Hellas ein. andlere ionische ware auch; die rhapsoden, die zuwanderten, verdienten sich mit seinem vertriebe ihr brot. sehr früh muſs dieser verkehr be- gomnen haben, lange ehe ein bauernsohn in Askra aus eignem drange sich dem dichterberufe in den fremden formen hingeben konnte. und die empfänglichkeit der hörer muſs eine groſse gewesen sein, da sie sich diese fremde dichtung nicht nur angeeignet haben, sondern ihre ganze eigne dichtung auf ihr aufgebaut. die neuen völkerschaften, die sich im mutterlande aus der mischung von eingewanderten herrn und alteingesessenen untertanen und knechten gebildet hatten, besaſsen zwar einen reichen schatz von nationaler überlieferung, aber sie hatten noch keime lebenskräftige poesie. der gehalt war da: das gefäſs fehlte. nun kam ein solches völlig fertig aus Ionien, und es kostete verhältnismäſsig wenig mühe, den neuen wein der festländischen sage hineinzugieſsen. die sagen, welche den inhalt des importirten epos ausgemacht hatten, wurden freilich auch übernommen, wirkten als kräftigstes ferment auch für die ausgestaltung der neuen epik mit, muſsten sich aber dafür mannig- fache umformungen gefallen lassen. die kunstform, versmaſs, sprache, stil, blieb; was sich darin änderte, geschah unwillkürlich und den ändern- den unbewuſst. so erlebt denn das homerische epos im mutterlande während der jahrhunderte 750—550 eine neue blüte, mochte es in seiner heimat gleichzeitig auch immer mehr zurücktreten. auch die sage der Peloponnesier und der amphiktionischen völkergruppe schlug sich noch in epischer form nieder; nur in die westlichen colonien ist das epos nicht mehr gelangt. es sind wesentlich die culturkreise von Chalkis Del- phoi Korinth Argos, welche sich seiner pflege widmen. übrigens bleibt die dichtkunst durchaus in den händen der handwerksmäſsigen sänger. noch viel stärker als der Ionier muſste der Peloponnesier empfinden, daſs er sich eine fremde mundart und ausdrucksweise aneignen sollte, um die taten seiner vorfahren und die idealbilder seiner eignen phantasie den landsleuten vorzuführen. und für uns büſst, wer immer es versucht, so ziemlich seine heimische nationalität zu gunsten der internationalen homerischen oder hesiodischen weise ein: erscheint doch Hesiodos selbst beinahe als ein Homeride. dieser umstand hat vielleicht ein wenig dazu mitgewirkt, daſs die herrschende gesellschaft, die dorischen oder chalkidi- schem ritter, selbst an der pflege des epos nicht hand anlegen. aber das ward noch durch etwas viel eingreifenderes gehindert, durch das standes- gefühl. zwischen dem adlichen burgherrn und dem fahrenden spielmann, den er sich dang, daſs er in der halle eine schöne mär sagte, von Ilios oder Theben, lieber noch eine von Herakles und Kyknos, oder von Medeias 5*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/87>, abgerufen am 30.04.2024.