Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Das leben des Euripides. der dichter, welchem die tragiker die Atreidengreuel, Euripides eine sogewalttätig neuernde sagenform wie die seiner Helene verdankt, hat ohne zweifel noch viel häufiger bestimmend eingewirkt. aber die ver- suche genauerer nachweisungen sind nicht nur bisher wenig glücklich gewesen, sondern auch kaum von der zukunft zu erwarten, da keine vermehrung des materiales in aussicht steht. Elegie und iambos wurden in den schulen gelesen, waren äusserst Stoffliche ausbeute würde den tragikern die mythographische litte- entführt, und nun ist doch die liebe der götter zu Troia verflogen. da sind die beiden mythen auch in erotischer wendung vereinigt: das mag man zufall nennen, mag auch dem Euripides die hübschen züge selbst zuschreiben, des Ganymedes gumnasia kai loutra (Phoen. 371, Phaeth. 782), und den sternenwagen, obwol letzterer sehr von der attischen weise abweicht, die wir von den vasenbildern her kennen, und ersteres dem dichter der knabenliebe wol ansteht. entscheidend ist die figur der praeteritio, die auf die vorige strophe nicht gehen kann, in der der raub nicht erzählt und Zeus nicht gescholten ist. ein quaerere distuli weist immer auf eine art polemik. 68) Mimnermos vgl. zu v. 637. bemerkenswert ist, dass Or. 1546 ein spruch des Semonides wiedergegeben wird (fgm. 1, 1). 69) Auf Alkaios nimmt Aischylos Sieb. 387 nach den scholien bezug. er war sonst nicht populär in Athen. das einzige von einem Attiker berücksichtigte alk- manische lied (Ar. Vög. 250) ist in der form nicht lakonisch. als Aristophanes aber Lakoner einführte, im schlusse der Lysistrate, griff er nach dem lakonischen poeten. an seine rhythmen gemahnt nur Sophokles öfter, und das wird zufall sein. 70) Die lebenszeit des mannes und alles was seine person angeht ist freilich
nur aus dem urteil über sein werk abzuleiten, da jede verlässliche angabe fehlt. der versuch ihn zu einem Athener zu machen wird hoffentlich keine verwirrung an- richten. wenn die grammatiker einzeln die benutzung der mythographen durch Euri- pides annehmen (schol. Or. 1654 Phoen. 71), so hat das keine beweiskraft. Das leben des Euripides. der dichter, welchem die tragiker die Atreidengreuel, Euripides eine sogewalttätig neuernde sagenform wie die seiner Helene verdankt, hat ohne zweifel noch viel häufiger bestimmend eingewirkt. aber die ver- suche genauerer nachweisungen sind nicht nur bisher wenig glücklich gewesen, sondern auch kaum von der zukunft zu erwarten, da keine vermehrung des materiales in aussicht steht. Elegie und iambos wurden in den schulen gelesen, waren äuſserst Stoffliche ausbeute würde den tragikern die mythographische litte- entführt, und nun ist doch die liebe der götter zu Troia verflogen. da sind die beiden mythen auch in erotischer wendung vereinigt: das mag man zufall nennen, mag auch dem Euripides die hübschen züge selbst zuschreiben, des Ganymedes γυμνάσια καὶ λουτρά (Phoen. 371, Phaeth. 782), und den sternenwagen, obwol letzterer sehr von der attischen weise abweicht, die wir von den vasenbildern her kennen, und ersteres dem dichter der knabenliebe wol ansteht. entscheidend ist die figur der praeteritio, die auf die vorige strophe nicht gehen kann, in der der raub nicht erzählt und Zeus nicht gescholten ist. ein quaerere distuli weist immer auf eine art polemik. 68) Mimnermos vgl. zu v. 637. bemerkenswert ist, daſs Or. 1546 ein spruch des Semonides wiedergegeben wird (fgm. 1, 1). 69) Auf Alkaios nimmt Aischylos Sieb. 387 nach den scholien bezug. er war sonst nicht populär in Athen. das einzige von einem Attiker berücksichtigte alk- manische lied (Ar. Vög. 250) ist in der form nicht lakonisch. als Aristophanes aber Lakoner einführte, im schlusse der Lysistrate, griff er nach dem lakonischen poeten. an seine rhythmen gemahnt nur Sophokles öfter, und das wird zufall sein. 70) Die lebenszeit des mannes und alles was seine person angeht ist freilich
nur aus dem urteil über sein werk abzuleiten, da jede verläſsliche angabe fehlt. der versuch ihn zu einem Athener zu machen wird hoffentlich keine verwirrung an- richten. wenn die grammatiker einzeln die benutzung der mythographen durch Euri- pides annehmen (schol. Or. 1654 Phoen. 71), so hat das keine beweiskraft. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0056" n="36"/><fw place="top" type="header">Das leben des Euripides.</fw><lb/> der dichter, welchem die tragiker die Atreidengreuel, Euripides eine so<lb/> gewalttätig neuernde sagenform wie die seiner Helene verdankt, hat<lb/> ohne zweifel noch viel häufiger bestimmend eingewirkt. aber die ver-<lb/> suche genauerer nachweisungen sind nicht nur bisher wenig glücklich<lb/> gewesen, sondern auch kaum von der zukunft zu erwarten, da keine<lb/> vermehrung des materiales in aussicht steht.</p><lb/> <p>Elegie und iambos wurden in den schulen gelesen, waren äuſserst<lb/> populär, es finden sich auch einzelne bezüge auf sie bei den tragikern <note place="foot" n="68)">Mimnermos vgl. zu v. 637. bemerkenswert ist, daſs Or. 1546 ein spruch<lb/> des Semonides wiedergegeben wird (fgm. 1, 1).</note>,<lb/> aber eine tiefere anregung war hier nicht möglich. die lieder der Lesbier<lb/> und Anakreons standen ähnlich, wenn auch von jenen wie von Alkman<lb/> wol nur einzelne lieder populär waren <note place="foot" n="69)">Auf Alkaios nimmt Aischylos Sieb. 387 nach den scholien bezug. er war<lb/> sonst nicht populär in Athen. das einzige von einem Attiker berücksichtigte alk-<lb/> manische lied (Ar. Vög. 250) ist in der form nicht lakonisch. als Aristophanes aber<lb/> Lakoner einführte, im schlusse der Lysistrate, griff er nach dem lakonischen poeten.<lb/> an seine rhythmen gemahnt nur Sophokles öfter, und das wird zufall sein.</note>. mythisches konnten sie wenig<lb/> geben, und die künstliche metrik wird nur noch hie und da eine an-<lb/> regung aus ihren einfachen weisen geschöpft haben, während allerdings<lb/> Aischylos bei Anakreon nachweislich gelernt hat. vielleicht wird sich aus<lb/> geschichtlicher betrachtung der metrik noch mehr ergeben.</p><lb/> <p>Stoffliche ausbeute würde den tragikern die mythographische litte-<lb/> ratur in reicher fülle geboten haben. denn ohne zweifel hat es davon<lb/> viel mehr gegeben, als auf die nachwelt kam. ist doch die schriftstellerei<lb/> des Akusilaos und des in Athen lebenden Leriers Pherekydes <note place="foot" n="70)">Die lebenszeit des mannes und alles was seine person angeht ist freilich<lb/> nur aus dem urteil über sein werk abzuleiten, da jede verläſsliche angabe fehlt.<lb/> der versuch ihn zu einem Athener zu machen wird hoffentlich keine verwirrung an-<lb/> richten. wenn die grammatiker einzeln die benutzung der mythographen durch Euri-<lb/> pides annehmen (schol. Or. 1654 Phoen. 71), so hat das keine beweiskraft.</note>, von<lb/> geringern wie Anaximandros abgesehen, nur so verständlich wie die der<lb/> nordischen prosaischen sagenbücher, als auflösung des epos. deshalb<lb/><note xml:id="note-0056" prev="#note-0055" place="foot" n="67)">entführt, und nun ist doch die liebe der götter zu Troia verflogen. da sind die beiden<lb/> mythen auch in erotischer wendung vereinigt: das mag man zufall nennen, mag auch<lb/> dem Euripides die hübschen züge selbst zuschreiben, des Ganymedes γυμνάσια καὶ<lb/> λουτρά (Phoen. 371, Phaeth. 782), und den sternenwagen, obwol letzterer sehr von<lb/> der attischen weise abweicht, die wir von den vasenbildern her kennen, und ersteres<lb/> dem dichter der knabenliebe wol ansteht. entscheidend ist die figur der praeteritio,<lb/> die auf die vorige strophe nicht gehen kann, in der der raub nicht erzählt und Zeus<lb/> nicht gescholten ist. ein <hi rendition="#i">quaerere distuli</hi> weist immer auf eine art polemik.</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [36/0056]
Das leben des Euripides.
der dichter, welchem die tragiker die Atreidengreuel, Euripides eine so
gewalttätig neuernde sagenform wie die seiner Helene verdankt, hat
ohne zweifel noch viel häufiger bestimmend eingewirkt. aber die ver-
suche genauerer nachweisungen sind nicht nur bisher wenig glücklich
gewesen, sondern auch kaum von der zukunft zu erwarten, da keine
vermehrung des materiales in aussicht steht.
Elegie und iambos wurden in den schulen gelesen, waren äuſserst
populär, es finden sich auch einzelne bezüge auf sie bei den tragikern 68),
aber eine tiefere anregung war hier nicht möglich. die lieder der Lesbier
und Anakreons standen ähnlich, wenn auch von jenen wie von Alkman
wol nur einzelne lieder populär waren 69). mythisches konnten sie wenig
geben, und die künstliche metrik wird nur noch hie und da eine an-
regung aus ihren einfachen weisen geschöpft haben, während allerdings
Aischylos bei Anakreon nachweislich gelernt hat. vielleicht wird sich aus
geschichtlicher betrachtung der metrik noch mehr ergeben.
Stoffliche ausbeute würde den tragikern die mythographische litte-
ratur in reicher fülle geboten haben. denn ohne zweifel hat es davon
viel mehr gegeben, als auf die nachwelt kam. ist doch die schriftstellerei
des Akusilaos und des in Athen lebenden Leriers Pherekydes 70), von
geringern wie Anaximandros abgesehen, nur so verständlich wie die der
nordischen prosaischen sagenbücher, als auflösung des epos. deshalb
67)
68) Mimnermos vgl. zu v. 637. bemerkenswert ist, daſs Or. 1546 ein spruch
des Semonides wiedergegeben wird (fgm. 1, 1).
69) Auf Alkaios nimmt Aischylos Sieb. 387 nach den scholien bezug. er war
sonst nicht populär in Athen. das einzige von einem Attiker berücksichtigte alk-
manische lied (Ar. Vög. 250) ist in der form nicht lakonisch. als Aristophanes aber
Lakoner einführte, im schlusse der Lysistrate, griff er nach dem lakonischen poeten.
an seine rhythmen gemahnt nur Sophokles öfter, und das wird zufall sein.
70) Die lebenszeit des mannes und alles was seine person angeht ist freilich
nur aus dem urteil über sein werk abzuleiten, da jede verläſsliche angabe fehlt.
der versuch ihn zu einem Athener zu machen wird hoffentlich keine verwirrung an-
richten. wenn die grammatiker einzeln die benutzung der mythographen durch Euri-
pides annehmen (schol. Or. 1654 Phoen. 71), so hat das keine beweiskraft.
67) entführt, und nun ist doch die liebe der götter zu Troia verflogen. da sind die beiden
mythen auch in erotischer wendung vereinigt: das mag man zufall nennen, mag auch
dem Euripides die hübschen züge selbst zuschreiben, des Ganymedes γυμνάσια καὶ
λουτρά (Phoen. 371, Phaeth. 782), und den sternenwagen, obwol letzterer sehr von
der attischen weise abweicht, die wir von den vasenbildern her kennen, und ersteres
dem dichter der knabenliebe wol ansteht. entscheidend ist die figur der praeteritio,
die auf die vorige strophe nicht gehen kann, in der der raub nicht erzählt und Zeus
nicht gescholten ist. ein quaerere distuli weist immer auf eine art polemik.
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