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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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istoria.
ein aegyptisches nomimon aus seinem Herodot anzubringen (OK 337).
nur die neue makedonische umgebung hat dem greisen dichter nicht
nur besondere localschilderungen eingegeben, sondern hat ihn auch
empfänglich gemacht für den zauber der freien natur mit wald und
wasser und wild, den ja am meisten der von der friedlosen civilisation
und dem getriebe der grossstadt abgehetzte empfindet 63). in dieser hatte
Euripides sich sein langes leben bewegt, hier hatte er beobachtet, ohne
sich in ihren strudel selbst zu stürzen, dennoch ganz in ihren kreis
gebannt, und gewohnt mit seinen gedanken in die tiefe zu dringen,
nicht in die weite zu schweifen. am gastlichen tische des Ion in Chios,
gar als feldherrn mit diplomatischem auftrage, könnte man sich ihn so
wenig denken wie den Sophokles mit Protagoras im Herakleitos lesend.
aber auch mit Perikles und Anaxagoras ein physisches problem erörternd
ist er nicht zu denken: alle die physikalischen einzelfragen interessiren
ihn nicht im mindesten, selbst die meteora nicht, wenn er auch einmal
die sonne eine khrusea bolos nach Anaxagoras nennt (Phaeth. 777
Or. 983). und wenn er im Phaethon einen lieblichen sternmythos dramati-
sirt, so vermenschlicht er ihn ganz: selbst für die wunder des gestirnten
himmels, die den Hellenen so besonders religiös stimmen, hat er nicht
entfernt die innige liebe wie seine landsleute Sophokles und Platon,
geschweige wie die sternliebenden Aioler 64).

(Herod. II 95), werden hier aber wegen der unmittelbar vorher gegebenen tragödie
Andromeda erwähnt.
63) Diese stimmung weht zwar durch die ganzen Bakchen, deren chor eben
deshalb gewählt ist, besonders aber in dem ausgeführten bilde 866: das reh, das
dem jäger entronnen ist, springt fröhlich in der waldeinsamkeit über die wiese.
Pieriens natur schildert er 409, 565, die ströme von Pella 571, in leider heillos ver-
dorbenen versen. er scheint gegen B 850 zu polemisiren. denn dort heisst der
Axios der strom mit dem schönsten wasser, hier wird der Axios okuroas genannt,
aber unmittelbar darauf dem Ludias das schönste wasser zugeschrieben -- wenn nicht
noch ein dritter fluss genannt war, denn nach der ganz ähnlichen stelle Hekab. 454
erwartet man den Apidanos.
64) Er bringt es selten über ein bild, das schön aber herkömmlich ist, wie
Eo leukon omma, oder Hik. 990, Andromeda 114, Ion 82. etwas selteneres ist der
vergleich mit einer sternschnuppe fgm. 961. sternbilder auf schildern oder tapeten,
eine geschichte, wie die umkehr des sonnenwagens bei den thyesteischen greueln
(Or. 1000) beweisen nichts für das naturgefühl des dichters. und wenn er einen
geblendeten sich sehnen lässt hinaufzufahren zu den hellen lichtern von Orion und
Seirios (Hekab. 1100), so ist das wundervoll aus der seele dessen, der ewige nacht
schaut, empfunden, aber keine peri ta meteora polupragmosune. sehr verkehrt
haben also die antiken verteidiger des Rhesos sich darauf berufen, dass hier aller-
dings 531 eine seltsame constellation geschildert wird, und Iph. Aul. 5 ist eben
v. Wilamowitz I. 3

ἱστορία.
ein aegyptisches νόμιμον aus seinem Herodot anzubringen (OK 337).
nur die neue makedonische umgebung hat dem greisen dichter nicht
nur besondere localschilderungen eingegeben, sondern hat ihn auch
empfänglich gemacht für den zauber der freien natur mit wald und
wasser und wild, den ja am meisten der von der friedlosen civilisation
und dem getriebe der groſsstadt abgehetzte empfindet 63). in dieser hatte
Euripides sich sein langes leben bewegt, hier hatte er beobachtet, ohne
sich in ihren strudel selbst zu stürzen, dennoch ganz in ihren kreis
gebannt, und gewohnt mit seinen gedanken in die tiefe zu dringen,
nicht in die weite zu schweifen. am gastlichen tische des Ion in Chios,
gar als feldherrn mit diplomatischem auftrage, könnte man sich ihn so
wenig denken wie den Sophokles mit Protagoras im Herakleitos lesend.
aber auch mit Perikles und Anaxagoras ein physisches problem erörternd
ist er nicht zu denken: alle die physikalischen einzelfragen interessiren
ihn nicht im mindesten, selbst die μετέωρα nicht, wenn er auch einmal
die sonne eine χρυσέα βῶλος nach Anaxagoras nennt (Phaeth. 777
Or. 983). und wenn er im Phaethon einen lieblichen sternmythos dramati-
sirt, so vermenschlicht er ihn ganz: selbst für die wunder des gestirnten
himmels, die den Hellenen so besonders religiös stimmen, hat er nicht
entfernt die innige liebe wie seine landsleute Sophokles und Platon,
geschweige wie die sternliebenden Aioler 64).

(Herod. II 95), werden hier aber wegen der unmittelbar vorher gegebenen tragödie
Andromeda erwähnt.
63) Diese stimmung weht zwar durch die ganzen Bakchen, deren chor eben
deshalb gewählt ist, besonders aber in dem ausgeführten bilde 866: das reh, das
dem jäger entronnen ist, springt fröhlich in der waldeinsamkeit über die wiese.
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dorbenen versen. er scheint gegen B 850 zu polemisiren. denn dort heiſst der
Axios der strom mit dem schönsten wasser, hier wird der Ἀξιὸς ὠκυρόας genannt,
aber unmittelbar darauf dem Ludias das schönste wasser zugeschrieben — wenn nicht
noch ein dritter fluſs genannt war, denn nach der ganz ähnlichen stelle Hekab. 454
erwartet man den Apidanos.
64) Er bringt es selten über ein bild, das schön aber herkömmlich ist, wie
Ἕω λευκὸν ὄμμα, oder Hik. 990, Andromeda 114, Ion 82. etwas selteneres ist der
vergleich mit einer sternschnuppe fgm. 961. sternbilder auf schildern oder tapeten,
eine geschichte, wie die umkehr des sonnenwagens bei den thyesteischen greueln
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schaut, empfunden, aber keine περἰ τὰ μετέωρα πολυπραγμοσύνη. sehr verkehrt
haben also die antiken verteidiger des Rhesos sich darauf berufen, daſs hier aller-
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[33/0053] ἱστορία. ein aegyptisches νόμιμον aus seinem Herodot anzubringen (OK 337). nur die neue makedonische umgebung hat dem greisen dichter nicht nur besondere localschilderungen eingegeben, sondern hat ihn auch empfänglich gemacht für den zauber der freien natur mit wald und wasser und wild, den ja am meisten der von der friedlosen civilisation und dem getriebe der groſsstadt abgehetzte empfindet 63). in dieser hatte Euripides sich sein langes leben bewegt, hier hatte er beobachtet, ohne sich in ihren strudel selbst zu stürzen, dennoch ganz in ihren kreis gebannt, und gewohnt mit seinen gedanken in die tiefe zu dringen, nicht in die weite zu schweifen. am gastlichen tische des Ion in Chios, gar als feldherrn mit diplomatischem auftrage, könnte man sich ihn so wenig denken wie den Sophokles mit Protagoras im Herakleitos lesend. aber auch mit Perikles und Anaxagoras ein physisches problem erörternd ist er nicht zu denken: alle die physikalischen einzelfragen interessiren ihn nicht im mindesten, selbst die μετέωρα nicht, wenn er auch einmal die sonne eine χρυσέα βῶλος nach Anaxagoras nennt (Phaeth. 777 Or. 983). und wenn er im Phaethon einen lieblichen sternmythos dramati- sirt, so vermenschlicht er ihn ganz: selbst für die wunder des gestirnten himmels, die den Hellenen so besonders religiös stimmen, hat er nicht entfernt die innige liebe wie seine landsleute Sophokles und Platon, geschweige wie die sternliebenden Aioler 64). 62) 63) Diese stimmung weht zwar durch die ganzen Bakchen, deren chor eben deshalb gewählt ist, besonders aber in dem ausgeführten bilde 866: das reh, das dem jäger entronnen ist, springt fröhlich in der waldeinsamkeit über die wiese. Pieriens natur schildert er 409, 565, die ströme von Pella 571, in leider heillos ver- dorbenen versen. er scheint gegen B 850 zu polemisiren. denn dort heiſst der Axios der strom mit dem schönsten wasser, hier wird der Ἀξιὸς ὠκυρόας genannt, aber unmittelbar darauf dem Ludias das schönste wasser zugeschrieben — wenn nicht noch ein dritter fluſs genannt war, denn nach der ganz ähnlichen stelle Hekab. 454 erwartet man den Apidanos. 64) Er bringt es selten über ein bild, das schön aber herkömmlich ist, wie Ἕω λευκὸν ὄμμα, oder Hik. 990, Andromeda 114, Ion 82. etwas selteneres ist der vergleich mit einer sternschnuppe fgm. 961. sternbilder auf schildern oder tapeten, eine geschichte, wie die umkehr des sonnenwagens bei den thyesteischen greueln (Or. 1000) beweisen nichts für das naturgefühl des dichters. und wenn er einen geblendeten sich sehnen läſst hinaufzufahren zu den hellen lichtern von Orion und Seirios (Hekab. 1100), so ist das wundervoll aus der seele dessen, der ewige nacht schaut, empfunden, aber keine περἰ τὰ μετέωρα πολυπραγμοσύνη. sehr verkehrt haben also die antiken verteidiger des Rhesos sich darauf berufen, daſs hier aller- dings 531 eine seltsame constellation geschildert wird, und Iph. Aul. 5 ist eben 62) (Herod. II 95), werden hier aber wegen der unmittelbar vorher gegebenen tragödie Andromeda erwähnt. v. Wilamowitz I. 3

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/53>, abgerufen am 28.04.2024.