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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Das leben des Euripides.
den lieben langen tag im gymnasium, Euripides grübelt in stiller grote;
jenes stolz ist das nichtwissen, dieser steht wie alle sophisten auf seiten
der bildung und verachtet die amathia; der philosoph traut auf die kraft
des menschlichen willens, der das rechte tun wird, wenn er es nur
erkennt: der tragiker sieht das grundübel in der schwäche des fleisches,
welche die verwirklichung der guten vorsätze verhindert. flach und
modern zu reden, jener ist optimist, dieser pessimist. zwischen ihren
ist keine vermittelung. dass aber beide grosse Athener das menschenherz
kennen und kündigen, und dass sie ihren blick mit vorliebe auf sitt-
liche probleme richten, besagt nichts anderes, als dass sie beide auf der
höhe derselben geistigen entwickelung stehn und deshalb beide die folge-
zeit beherrscht haben. höchstens mag man annehmen, dass der Milesier
Archelaos auf beide ähnlich gewirkt hat, denn er wird beider lehrer ge-
nannt und gilt als erster philosoph über ethik; aber wir wissen nichts
von ihm, und nach Theophrast ist sein werk verschollen gewesen 43).
wenn wir endlich bei den Sokratikern, oder vielmehr bei Platon, über
den Eros gedanken finden, welche an Euripides seltsam anklingen, so
ist es einleuchtend, dass Platon eben von diesem anregungen erhalten
hat 44), die sich mit den sokratischen nur in dem gegensatz gegen die
grobe sinnlichkeit decken.

43) Nach Diogenes II 16 soll er das dikaion kai adikon nomo gelehrt haben.
auf die formulirung ist nicht viel zu geben, aber dass sich der satz mit seiner ent-
wickelungslehre (Hippolyt. I 9 p. 564 Diels) gut verträgt, ist nicht geeignet, ihn zu
discreditiren. die wiederkehr des satzes bei Euripides aber spricht für ihn. ebenso
ist man geneigt, dem Aetius starke verwirrung zuzutrauen, wenn er sagt Arkhelaos
aera kai noun ton theon, ou mentoi kosmopoion ton noun (I 7 p. 302 Diels): aber
auch da gehen Euripides und der falsche Epicharm mit, vgl. über beide unten. viel-
leicht hätte ich richtiger getan, alle diese lehren auf Archelaos bestimmt zu be-
ziehen, und dann würde noch manches folgen. allein ich zog vor, das bild minder
einheitlich zu geben, damit die einzelnen züge schärfer blieben.
44) Die prophezeiung (Med. 830), dass am Kephisos die Eroten als paredroi
der Weisheit walten, ist dadurch in erfüllung gegangen, dass Platon neben dem
gymnasium der Akademie seine schule gegründet hat, und in jener schon zu Euri-
pides zeit die jünglinge den sophisten lauschten und der Erosaltar stand. der doppelte
Eros ist wol wirklich schon in jenem zeitalter von der speculation viel behandelt.
übrigens ist die anregung auf Platon von Euripides stärker als man annimmt, nicht
bloss in einzelnen wendungen der conversation wie ouk emos o muthos, oder die iso-
theos turannis (Tro. 1169 Staat 568b). wenn die seele des Odysseus philotimias le-
lophekuia sich den bios andros idiotou apragmonos aufsucht (Staat 620c), so tut
sie das im anschluss an die worte, welche der euripideische Odysseus im prolog des
Philoktet sprach (785) pos d an phronoien, o paren apragmonos en toisi pol-
lois erithmemeno stratou ison metaskhein to sophotato tukhes, wovon ihn die phi-

Das leben des Euripides.
den lieben langen tag im gymnasium, Euripides grübelt in stiller grote;
jenes stolz ist das nichtwissen, dieser steht wie alle sophisten auf seiten
der bildung und verachtet die ἀμαϑία; der philosoph traut auf die kraft
des menschlichen willens, der das rechte tun wird, wenn er es nur
erkennt: der tragiker sieht das grundübel in der schwäche des fleisches,
welche die verwirklichung der guten vorsätze verhindert. flach und
modern zu reden, jener ist optimist, dieser pessimist. zwischen ihren
ist keine vermittelung. daſs aber beide groſse Athener das menschenherz
kennen und kündigen, und daſs sie ihren blick mit vorliebe auf sitt-
liche probleme richten, besagt nichts anderes, als daſs sie beide auf der
höhe derselben geistigen entwickelung stehn und deshalb beide die folge-
zeit beherrscht haben. höchstens mag man annehmen, daſs der Milesier
Archelaos auf beide ähnlich gewirkt hat, denn er wird beider lehrer ge-
nannt und gilt als erster philosoph über ethik; aber wir wissen nichts
von ihm, und nach Theophrast ist sein werk verschollen gewesen 43).
wenn wir endlich bei den Sokratikern, oder vielmehr bei Platon, über
den Eros gedanken finden, welche an Euripides seltsam anklingen, so
ist es einleuchtend, daſs Platon eben von diesem anregungen erhalten
hat 44), die sich mit den sokratischen nur in dem gegensatz gegen die
grobe sinnlichkeit decken.

43) Nach Diogenes II 16 soll er das δίκαιον καὶ ἄδικον νόμῳ gelehrt haben.
auf die formulirung ist nicht viel zu geben, aber daſs sich der satz mit seiner ent-
wickelungslehre (Hippolyt. I 9 p. 564 Diels) gut verträgt, ist nicht geeignet, ihn zu
discreditiren. die wiederkehr des satzes bei Euripides aber spricht für ihn. ebenso
ist man geneigt, dem Aetius starke verwirrung zuzutrauen, wenn er sagt Ἀρχέλαος
ἀέρα καὶ νοῦν τὸν ϑεόν, οὐ μέντοι κοσμοποιὸν τὸν νοῦν (I 7 p. 302 Diels): aber
auch da gehen Euripides und der falsche Epicharm mit, vgl. über beide unten. viel-
leicht hätte ich richtiger getan, alle diese lehren auf Archelaos bestimmt zu be-
ziehen, und dann würde noch manches folgen. allein ich zog vor, das bild minder
einheitlich zu geben, damit die einzelnen züge schärfer blieben.
44) Die prophezeiung (Med. 830), daſs am Kephisos die Eroten als πάρεδροι
der Weisheit walten, ist dadurch in erfüllung gegangen, daſs Platon neben dem
gymnasium der Akademie seine schule gegründet hat, und in jener schon zu Euri-
pides zeit die jünglinge den sophisten lauschten und der Erosaltar stand. der doppelte
Eros ist wol wirklich schon in jenem zeitalter von der speculation viel behandelt.
übrigens ist die anregung auf Platon von Euripides stärker als man annimmt, nicht
bloſs in einzelnen wendungen der conversation wie οὐκ ἐμὸς ὁ μῦϑος, oder die ἰσό-
ϑεος τυραννίς (Tro. 1169 Staat 568b). wenn die seele des Odysseus φιλοτιμίας λε-
λωφηκυῖα sich den βίος ἀνδρὸς ἰδιώτου ἀπράγμονος aufsucht (Staat 620c), so tut
sie das im anschluſs an die worte, welche der euripideische Odysseus im prolog des
Philoktet sprach (785) πῶς δ̕ ἂν φρονοίην, ᾧ παρῆν ἀπραγμόνως ἐν τοῖσι πολ-
λοῖς ἠριϑμημένῳ στρατοῦ ἴσον μετασχεῖν τῷ σοφοτάτῳ τύχης, wovon ihn die φι-
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[24/0044] Das leben des Euripides. den lieben langen tag im gymnasium, Euripides grübelt in stiller grote; jenes stolz ist das nichtwissen, dieser steht wie alle sophisten auf seiten der bildung und verachtet die ἀμαϑία; der philosoph traut auf die kraft des menschlichen willens, der das rechte tun wird, wenn er es nur erkennt: der tragiker sieht das grundübel in der schwäche des fleisches, welche die verwirklichung der guten vorsätze verhindert. flach und modern zu reden, jener ist optimist, dieser pessimist. zwischen ihren ist keine vermittelung. daſs aber beide groſse Athener das menschenherz kennen und kündigen, und daſs sie ihren blick mit vorliebe auf sitt- liche probleme richten, besagt nichts anderes, als daſs sie beide auf der höhe derselben geistigen entwickelung stehn und deshalb beide die folge- zeit beherrscht haben. höchstens mag man annehmen, daſs der Milesier Archelaos auf beide ähnlich gewirkt hat, denn er wird beider lehrer ge- nannt und gilt als erster philosoph über ethik; aber wir wissen nichts von ihm, und nach Theophrast ist sein werk verschollen gewesen 43). wenn wir endlich bei den Sokratikern, oder vielmehr bei Platon, über den Eros gedanken finden, welche an Euripides seltsam anklingen, so ist es einleuchtend, daſs Platon eben von diesem anregungen erhalten hat 44), die sich mit den sokratischen nur in dem gegensatz gegen die grobe sinnlichkeit decken. 43) Nach Diogenes II 16 soll er das δίκαιον καὶ ἄδικον νόμῳ gelehrt haben. auf die formulirung ist nicht viel zu geben, aber daſs sich der satz mit seiner ent- wickelungslehre (Hippolyt. I 9 p. 564 Diels) gut verträgt, ist nicht geeignet, ihn zu discreditiren. die wiederkehr des satzes bei Euripides aber spricht für ihn. ebenso ist man geneigt, dem Aetius starke verwirrung zuzutrauen, wenn er sagt Ἀρχέλαος ἀέρα καὶ νοῦν τὸν ϑεόν, οὐ μέντοι κοσμοποιὸν τὸν νοῦν (I 7 p. 302 Diels): aber auch da gehen Euripides und der falsche Epicharm mit, vgl. über beide unten. viel- leicht hätte ich richtiger getan, alle diese lehren auf Archelaos bestimmt zu be- ziehen, und dann würde noch manches folgen. allein ich zog vor, das bild minder einheitlich zu geben, damit die einzelnen züge schärfer blieben. 44) Die prophezeiung (Med. 830), daſs am Kephisos die Eroten als πάρεδροι der Weisheit walten, ist dadurch in erfüllung gegangen, daſs Platon neben dem gymnasium der Akademie seine schule gegründet hat, und in jener schon zu Euri- pides zeit die jünglinge den sophisten lauschten und der Erosaltar stand. der doppelte Eros ist wol wirklich schon in jenem zeitalter von der speculation viel behandelt. übrigens ist die anregung auf Platon von Euripides stärker als man annimmt, nicht bloſs in einzelnen wendungen der conversation wie οὐκ ἐμὸς ὁ μῦϑος, oder die ἰσό- ϑεος τυραννίς (Tro. 1169 Staat 568b). wenn die seele des Odysseus φιλοτιμίας λε- λωφηκυῖα sich den βίος ἀνδρὸς ἰδιώτου ἀπράγμονος aufsucht (Staat 620c), so tut sie das im anschluſs an die worte, welche der euripideische Odysseus im prolog des Philoktet sprach (785) πῶς δ̕ ἂν φρονοίην, ᾧ παρῆν ἀπραγμόνως ἐν τοῖσι πολ- λοῖς ἠριϑμημένῳ στρατοῦ ἴσον μετασχεῖν τῷ σοφοτάτῳ τύχης, wovon ihn die φι-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/44>, abgerufen am 27.11.2024.