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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der dodekathlos.
die welt, wenn er nur will: das liegt in den vier letzten aufträgen allen.
und auch die auffassung von der person des helden geht durch alle
gemeinsam durch. er ist nicht mehr bogenschütze, er ist auch nicht
hoplit: er greift jede aufgabe an, wie es am besten geht, er würgt den
löwen, läuft hinter der hindin, jagt den eber in den schnee, wirft mit der
schleuder hinter den vögeln, schiesst den flüchtigen Kentauren, schlägt
Geryones mit der keule nieder. die mannigfaltigkeit der kämpfe trotz
ihrer inneren gleichheit bezeugt nachdrücklich eine einheitliche über-
legende dichtung. wichtiger noch ist, dass der cyclus das ganze leben
füllt. er reicht ja von der ersten tat bis zum eingang in den himmel.
wie kann man darin planvolle dichtung verkennen? es ist wahr, die mytho-
graphische überlieferung setzt vor den dodekathlos die boeotische kind-
heitsgeschichte und hinter ihn den tod auf dem Oeta und was dazu gehört.
aber das sondert sich nicht schwerer ab als jedes einzelne parergon. es ist
doch wol ein widersinn, dass der Herakles, der wider den nemeischen löwen
auszieht, schon Orchomenos bezwungen, den dreifuss geraubt, kinder ge-
zeugt und erschlagen hat, ja sogar schon das fell des kithaironischen löwen
trägt. noch viel übler ist der anschluss der oetaischen sagen am schlusse.
durch sie ist ja der sinn der beiden letzten taten, höllen- und himmel-
fahrt, überhaupt zerstört worden, so dass sie auf den rang der tierkämpfe
hinabgedrückt werden. hat man deren echte bedeutung ernsthaft erfasst,
so ist damit entschieden, dass der dodekathlos als ein selbständiges ganzes
neben den andern Heraklessagen steht, folglich längst bestand, ehe die
mythographen ihre compilatorische tätigkeit begannen, und da ihnen
schon die wirkliche bedeutung dunkel war, so muss die dichtung selbst
weit älter sein. sie haben ja aber auch eine anzahl der taten, hydra
Amazonen rosse Geryones, in einer schon stark umgearbeiteten form nach-
erzählt, so dass uns zum teil das original ganz unkenntlich ist; die hydra
z. b. war vor 600 schon in einer solchen umarbeitung ganz geläufig, und
die höllenfahrt schon damals als auftrag des Eurystheus bekannt: das
schiebt das originalgedicht ganz beträchtlich in der zeit hinauf.

Doch für die zeit der entstehung zeugt am sichersten der geogra-
phische horizont, der für den dodekathlos gilt. Mykene und seine nachbar-
schaft bis an die Pholoe hin, das ist dem dichter wirklich bekannt: jenseits
dieser engsten grenze beginnt mythisches oder halbmythisches land. Kreta
und der problematische begriff Thrakien sind die einzigen namen, die sonst
vorkommen: und Kreta wenigstens ist aus fremder sage herübergenommen.
dass die originale fassung der letzten vier aufträge nicht recht deutlich
ist, verschlägt für dieses allgemeine verhältnis gar nichts. spielen doch

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Der dodekathlos.
die welt, wenn er nur will: das liegt in den vier letzten aufträgen allen.
und auch die auffassung von der person des helden geht durch alle
gemeinsam durch. er ist nicht mehr bogenschütze, er ist auch nicht
hoplit: er greift jede aufgabe an, wie es am besten geht, er würgt den
löwen, läuft hinter der hindin, jagt den eber in den schnee, wirft mit der
schleuder hinter den vögeln, schieſst den flüchtigen Kentauren, schlägt
Geryones mit der keule nieder. die mannigfaltigkeit der kämpfe trotz
ihrer inneren gleichheit bezeugt nachdrücklich eine einheitliche über-
legende dichtung. wichtiger noch ist, daſs der cyclus das ganze leben
füllt. er reicht ja von der ersten tat bis zum eingang in den himmel.
wie kann man darin planvolle dichtung verkennen? es ist wahr, die mytho-
graphische überlieferung setzt vor den dodekathlos die boeotische kind-
heitsgeschichte und hinter ihn den tod auf dem Oeta und was dazu gehört.
aber das sondert sich nicht schwerer ab als jedes einzelne πάρεργον. es ist
doch wol ein widersinn, daſs der Herakles, der wider den nemeischen löwen
auszieht, schon Orchomenos bezwungen, den dreifuſs geraubt, kinder ge-
zeugt und erschlagen hat, ja sogar schon das fell des kithaironischen löwen
trägt. noch viel übler ist der anschluſs der oetaischen sagen am schlusse.
durch sie ist ja der sinn der beiden letzten taten, höllen- und himmel-
fahrt, überhaupt zerstört worden, so daſs sie auf den rang der tierkämpfe
hinabgedrückt werden. hat man deren echte bedeutung ernsthaft erfaſst,
so ist damit entschieden, daſs der dodekathlos als ein selbständiges ganzes
neben den andern Heraklessagen steht, folglich längst bestand, ehe die
mythographen ihre compilatorische tätigkeit begannen, und da ihnen
schon die wirkliche bedeutung dunkel war, so muſs die dichtung selbst
weit älter sein. sie haben ja aber auch eine anzahl der taten, hydra
Amazonen rosse Geryones, in einer schon stark umgearbeiteten form nach-
erzählt, so daſs uns zum teil das original ganz unkenntlich ist; die hydra
z. b. war vor 600 schon in einer solchen umarbeitung ganz geläufig, und
die höllenfahrt schon damals als auftrag des Eurystheus bekannt: das
schiebt das originalgedicht ganz beträchtlich in der zeit hinauf.

Doch für die zeit der entstehung zeugt am sichersten der geogra-
phische horizont, der für den dodekathlos gilt. Mykene und seine nachbar-
schaft bis an die Pholoe hin, das ist dem dichter wirklich bekannt: jenseits
dieser engsten grenze beginnt mythisches oder halbmythisches land. Kreta
und der problematische begriff Thrakien sind die einzigen namen, die sonst
vorkommen: und Kreta wenigstens ist aus fremder sage herübergenommen.
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ist, verschlägt für dieses allgemeine verhältnis gar nichts. spielen doch

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[307/0327] Der dodekathlos. die welt, wenn er nur will: das liegt in den vier letzten aufträgen allen. und auch die auffassung von der person des helden geht durch alle gemeinsam durch. er ist nicht mehr bogenschütze, er ist auch nicht hoplit: er greift jede aufgabe an, wie es am besten geht, er würgt den löwen, läuft hinter der hindin, jagt den eber in den schnee, wirft mit der schleuder hinter den vögeln, schieſst den flüchtigen Kentauren, schlägt Geryones mit der keule nieder. die mannigfaltigkeit der kämpfe trotz ihrer inneren gleichheit bezeugt nachdrücklich eine einheitliche über- legende dichtung. wichtiger noch ist, daſs der cyclus das ganze leben füllt. er reicht ja von der ersten tat bis zum eingang in den himmel. wie kann man darin planvolle dichtung verkennen? es ist wahr, die mytho- graphische überlieferung setzt vor den dodekathlos die boeotische kind- heitsgeschichte und hinter ihn den tod auf dem Oeta und was dazu gehört. aber das sondert sich nicht schwerer ab als jedes einzelne πάρεργον. es ist doch wol ein widersinn, daſs der Herakles, der wider den nemeischen löwen auszieht, schon Orchomenos bezwungen, den dreifuſs geraubt, kinder ge- zeugt und erschlagen hat, ja sogar schon das fell des kithaironischen löwen trägt. noch viel übler ist der anschluſs der oetaischen sagen am schlusse. durch sie ist ja der sinn der beiden letzten taten, höllen- und himmel- fahrt, überhaupt zerstört worden, so daſs sie auf den rang der tierkämpfe hinabgedrückt werden. hat man deren echte bedeutung ernsthaft erfaſst, so ist damit entschieden, daſs der dodekathlos als ein selbständiges ganzes neben den andern Heraklessagen steht, folglich längst bestand, ehe die mythographen ihre compilatorische tätigkeit begannen, und da ihnen schon die wirkliche bedeutung dunkel war, so muſs die dichtung selbst weit älter sein. sie haben ja aber auch eine anzahl der taten, hydra Amazonen rosse Geryones, in einer schon stark umgearbeiteten form nach- erzählt, so daſs uns zum teil das original ganz unkenntlich ist; die hydra z. b. war vor 600 schon in einer solchen umarbeitung ganz geläufig, und die höllenfahrt schon damals als auftrag des Eurystheus bekannt: das schiebt das originalgedicht ganz beträchtlich in der zeit hinauf. Doch für die zeit der entstehung zeugt am sichersten der geogra- phische horizont, der für den dodekathlos gilt. Mykene und seine nachbar- schaft bis an die Pholoe hin, das ist dem dichter wirklich bekannt: jenseits dieser engsten grenze beginnt mythisches oder halbmythisches land. Kreta und der problematische begriff Thrakien sind die einzigen namen, die sonst vorkommen: und Kreta wenigstens ist aus fremder sage herübergenommen. daſs die originale fassung der letzten vier aufträge nicht recht deutlich ist, verschlägt für dieses allgemeine verhältnis gar nichts. spielen doch 20*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/327>, abgerufen am 22.11.2024.