Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Die wahren aufgaben. gilt sich in eine fremde seele zu versenken, sei es die eines einzelnen,sei es die eines volkes. in der aufopferung unserer eigenen individualität liegt unsere stärke. wir philologen als solche haben nichts vom dichter noch vom propheten, was beides bis zu einem gewissen grade der histo- riker sein muss. dagegen müssen wir etwas vom schauspieler in uns tragen, nicht vom virtuosen, der seiner rolle eigene lichter aufsetzt, sondern vom echten künstler, der dem toten worte durch das eigene herzblut leben gibt. auch bei uns geht das am besten durch das lebendige wort: wenn G. Hermann ein chorlied vorlas, dann rauschten die alten rhythmen in voller stärke -- denen die ihn gehört haben, klingen sie noch in den ohren. aber das wort verhallt, und so muss man sein unvoll- kommenes surrogat, die schrift, zu hilfe nehmen. und doch hat auch der dickste commentar nur darin berechtigung, dass er das verständnis des dramas erschliesst, dass er dem nacharbeitenden leser zum vollen genusse der dichtung verhilft, einem genusse, der freilich nur um den preis ernster arbeit feil ist. wir haben erst in zweiter linie die schätze ge- schichtlicher belehrung zu heben, die für uns in dem werke liegen, in erster linie kommt es darauf an, das frei und wirksam zu machen, was der dichter hineingelegt hat. es ist freilich gar vieles vielen verschiedenen disciplinen angehörige zusammen zu suchen und zu erläutern, damit der leser die kenntnisse voraussetzungen stimmungen erhalte, die der Athener in das Dionysostheater mitbrachte, als er das drama zu schauen gieng: das ideal bleibt es doch, dem die philologische erklärung zustrebt, dem modernen leser den genuss des antiken hörers zu ermöglichen. also müssen zwar commentare geschrieben werden, wozu die vorige generation sich zu vornehm dünkte, aber nicht, wie es Valckenaer und Lobeck getan haben, um den qualm der eigenen erudition loszulassen, sondern um das licht der alten verse mit alter wärme und in altem glanze in empfängliche seelen fallen zu lassen: non fumum e fulgore, sed e fumo dare lucem. v. Wilamowitz I. 17
Die wahren aufgaben. gilt sich in eine fremde seele zu versenken, sei es die eines einzelnen,sei es die eines volkes. in der aufopferung unserer eigenen individualität liegt unsere stärke. wir philologen als solche haben nichts vom dichter noch vom propheten, was beides bis zu einem gewissen grade der histo- riker sein muſs. dagegen müssen wir etwas vom schauspieler in uns tragen, nicht vom virtuosen, der seiner rolle eigene lichter aufsetzt, sondern vom echten künstler, der dem toten worte durch das eigene herzblut leben gibt. auch bei uns geht das am besten durch das lebendige wort: wenn G. Hermann ein chorlied vorlas, dann rauschten die alten rhythmen in voller stärke — denen die ihn gehört haben, klingen sie noch in den ohren. aber das wort verhallt, und so muſs man sein unvoll- kommenes surrogat, die schrift, zu hilfe nehmen. und doch hat auch der dickste commentar nur darin berechtigung, daſs er das verständnis des dramas erschlieſst, daſs er dem nacharbeitenden leser zum vollen genusse der dichtung verhilft, einem genusse, der freilich nur um den preis ernster arbeit feil ist. wir haben erst in zweiter linie die schätze ge- schichtlicher belehrung zu heben, die für uns in dem werke liegen, in erster linie kommt es darauf an, das frei und wirksam zu machen, was der dichter hineingelegt hat. es ist freilich gar vieles vielen verschiedenen disciplinen angehörige zusammen zu suchen und zu erläutern, damit der leser die kenntnisse voraussetzungen stimmungen erhalte, die der Athener in das Dionysostheater mitbrachte, als er das drama zu schauen gieng: das ideal bleibt es doch, dem die philologische erklärung zustrebt, dem modernen leser den genuſs des antiken hörers zu ermöglichen. also müssen zwar commentare geschrieben werden, wozu die vorige generation sich zu vornehm dünkte, aber nicht, wie es Valckenaer und Lobeck getan haben, um den qualm der eigenen erudition loszulassen, sondern um das licht der alten verse mit alter wärme und in altem glanze in empfängliche seelen fallen zu lassen: non fumum e fulgore, sed e fumo dare lucem. v. Wilamowitz I. 17
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Die wahren aufgaben.
gilt sich in eine fremde seele zu versenken, sei es die eines einzelnen,
sei es die eines volkes. in der aufopferung unserer eigenen individualität
liegt unsere stärke. wir philologen als solche haben nichts vom dichter
noch vom propheten, was beides bis zu einem gewissen grade der histo-
riker sein muſs. dagegen müssen wir etwas vom schauspieler in uns
tragen, nicht vom virtuosen, der seiner rolle eigene lichter aufsetzt,
sondern vom echten künstler, der dem toten worte durch das eigene
herzblut leben gibt. auch bei uns geht das am besten durch das lebendige
wort: wenn G. Hermann ein chorlied vorlas, dann rauschten die alten
rhythmen in voller stärke — denen die ihn gehört haben, klingen sie noch
in den ohren. aber das wort verhallt, und so muſs man sein unvoll-
kommenes surrogat, die schrift, zu hilfe nehmen. und doch hat auch der
dickste commentar nur darin berechtigung, daſs er das verständnis des
dramas erschlieſst, daſs er dem nacharbeitenden leser zum vollen genusse
der dichtung verhilft, einem genusse, der freilich nur um den preis
ernster arbeit feil ist. wir haben erst in zweiter linie die schätze ge-
schichtlicher belehrung zu heben, die für uns in dem werke liegen, in
erster linie kommt es darauf an, das frei und wirksam zu machen, was
der dichter hineingelegt hat. es ist freilich gar vieles vielen verschiedenen
disciplinen angehörige zusammen zu suchen und zu erläutern, damit der
leser die kenntnisse voraussetzungen stimmungen erhalte, die der Athener
in das Dionysostheater mitbrachte, als er das drama zu schauen gieng:
das ideal bleibt es doch, dem die philologische erklärung zustrebt, dem
modernen leser den genuſs des antiken hörers zu ermöglichen. also
müssen zwar commentare geschrieben werden, wozu die vorige generation
sich zu vornehm dünkte, aber nicht, wie es Valckenaer und Lobeck getan
haben, um den qualm der eigenen erudition loszulassen, sondern um das
licht der alten verse mit alter wärme und in altem glanze in empfängliche
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