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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
modernen, in der dünnen luft des vernünftigen jahrhunderts blasirt ge-
wordenen, menschen wieder naiv und kräftig um die frühlingsstürme, den
wüstenbrand, den urwaldhauch vertragen zu können, in denen die jugend-
liche menschheit die offenbarungen der naturreligion empfangen haben,
aus denen alle und jede poesie erwachsen ist. nun drängten sich scharen
begeisterter jünglinge wieder zu dem borne der hellenischen poesie. und
einer war unter ihnen, der als jüngling bei dem meister gelernt hatte
die irdische brust im morgenrot zu baden, und es als mann vermochte
die poesie aus dem geiste und der wahrheit des Hellenentumes wieder-
zugebären. jetzt erst wurden die philologen inne, welche schätze sie zu
hüten, welches evangelium sie zu verkünden berufen sind. und für alle
zeiten steht es fest, dass die philologie ihre pflicht gegen die hellenischen
dichter nur dann erfüllen kann, wenn sie dieselbe in goethischem sinne
auffasst.

Es geschah aber die befreiung des poetischen empfindens und ver-
stehens wesentlich durch die wiedererweckung der homerischen poesie, und
im drama durch die Shakespeares. die attischen dichter übten daneben
eine verhältnismässig geringe macht direct aus, die wahrheit zu sagen,
weil sie zu schwer zu verstehen waren. die genialische art, mit der man
sich allenfalls des Homer bemächtigen konnte, versagte gegenüber einem
attischen chorliede, und die übersetzungen halfen wenig weiter. Goethe
hatte doch in Wetzlar ernsthafter griechisch getrieben als die meisten
seines kreises, und hatte an Theokrit und Pindar mehr als genippt (die
Goethephilologen unterschätzen das), aber um Götter Helden und Wieland
zu schreiben hat er die Alkestis beim pater Brumoy und nicht beim Euri-
pides nachgelesen 10). der Iphigenie sieht man es in ihrer italienischen
gestalt dann freilich an, dass die wucht der trimeter der sophokleischen
Elektra unmittelbar auf sie gewirkt hat. seine Helena hat den Troerinnen
des Euripides nicht nur das eingangsmotiv und manches in den chor-
liedern entlehnt, sondern die kunstform der antiken tragödie war ihm
damals so sehr in der tiefsten bedeutsamkeit und in den äusserlichsten
stilkennzeichen lebendig geworden, wie es nur durch die originale möglich

10) Es macht sich doch etwas possierlich, dass Goethe von 'der königin der
toten, der geleiterin zum Orkus' redet, und diese gar 'das unerbittliche schicksal'
nennt, weil dem Deutschen das männliche geschlecht des Todes die wiedergabe von
la mort, cette orgueilleuse reine des ombres erschwert: an anakta ton melampeplon
nekron Thanaton denkt er nicht. Brumoy hat sich selbst darüber ausgesprochen,
dass er la mort gewagt hätte, wo die lateinischen übersetzer oreus gesetzt hatten
(II 84 der ausgabe von 1730).

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
modernen, in der dünnen luft des vernünftigen jahrhunderts blasirt ge-
wordenen, menschen wieder naiv und kräftig um die frühlingsstürme, den
wüstenbrand, den urwaldhauch vertragen zu können, in denen die jugend-
liche menschheit die offenbarungen der naturreligion empfangen haben,
aus denen alle und jede poesie erwachsen ist. nun drängten sich scharen
begeisterter jünglinge wieder zu dem borne der hellenischen poesie. und
einer war unter ihnen, der als jüngling bei dem meister gelernt hatte
die irdische brust im morgenrot zu baden, und es als mann vermochte
die poesie aus dem geiste und der wahrheit des Hellenentumes wieder-
zugebären. jetzt erst wurden die philologen inne, welche schätze sie zu
hüten, welches evangelium sie zu verkünden berufen sind. und für alle
zeiten steht es fest, daſs die philologie ihre pflicht gegen die hellenischen
dichter nur dann erfüllen kann, wenn sie dieselbe in goethischem sinne
auffaſst.

Es geschah aber die befreiung des poetischen empfindens und ver-
stehens wesentlich durch die wiedererweckung der homerischen poesie, und
im drama durch die Shakespeares. die attischen dichter übten daneben
eine verhältnismäſsig geringe macht direct aus, die wahrheit zu sagen,
weil sie zu schwer zu verstehen waren. die genialische art, mit der man
sich allenfalls des Homer bemächtigen konnte, versagte gegenüber einem
attischen chorliede, und die übersetzungen halfen wenig weiter. Goethe
hatte doch in Wetzlar ernsthafter griechisch getrieben als die meisten
seines kreises, und hatte an Theokrit und Pindar mehr als genippt (die
Goethephilologen unterschätzen das), aber um Götter Helden und Wieland
zu schreiben hat er die Alkestis beim pater Brumoy und nicht beim Euri-
pides nachgelesen 10). der Iphigenie sieht man es in ihrer italienischen
gestalt dann freilich an, daſs die wucht der trimeter der sophokleischen
Elektra unmittelbar auf sie gewirkt hat. seine Helena hat den Troerinnen
des Euripides nicht nur das eingangsmotiv und manches in den chor-
liedern entlehnt, sondern die kunstform der antiken tragödie war ihm
damals so sehr in der tiefsten bedeutsamkeit und in den äuſserlichsten
stilkennzeichen lebendig geworden, wie es nur durch die originale möglich

10) Es macht sich doch etwas possierlich, daſs Goethe von ‘der königin der
toten, der geleiterin zum Orkus’ redet, und diese gar ‘das unerbittliche schicksal’
nennt, weil dem Deutschen das männliche geschlecht des Todes die wiedergabe von
la mort, cette orgueilleuse reine des ombres erschwert: an ἄνακτα τὸν μελάμπεπλον
νεκρῶν Θάνατον denkt er nicht. Brumoy hat sich selbst darüber ausgesprochen,
daſs er la mort gewagt hätte, wo die lateinischen übersetzer oreus gesetzt hatten
(II 84 der ausgabe von 1730).
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[234/0254] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. modernen, in der dünnen luft des vernünftigen jahrhunderts blasirt ge- wordenen, menschen wieder naiv und kräftig um die frühlingsstürme, den wüstenbrand, den urwaldhauch vertragen zu können, in denen die jugend- liche menschheit die offenbarungen der naturreligion empfangen haben, aus denen alle und jede poesie erwachsen ist. nun drängten sich scharen begeisterter jünglinge wieder zu dem borne der hellenischen poesie. und einer war unter ihnen, der als jüngling bei dem meister gelernt hatte die irdische brust im morgenrot zu baden, und es als mann vermochte die poesie aus dem geiste und der wahrheit des Hellenentumes wieder- zugebären. jetzt erst wurden die philologen inne, welche schätze sie zu hüten, welches evangelium sie zu verkünden berufen sind. und für alle zeiten steht es fest, daſs die philologie ihre pflicht gegen die hellenischen dichter nur dann erfüllen kann, wenn sie dieselbe in goethischem sinne auffaſst. Es geschah aber die befreiung des poetischen empfindens und ver- stehens wesentlich durch die wiedererweckung der homerischen poesie, und im drama durch die Shakespeares. die attischen dichter übten daneben eine verhältnismäſsig geringe macht direct aus, die wahrheit zu sagen, weil sie zu schwer zu verstehen waren. die genialische art, mit der man sich allenfalls des Homer bemächtigen konnte, versagte gegenüber einem attischen chorliede, und die übersetzungen halfen wenig weiter. Goethe hatte doch in Wetzlar ernsthafter griechisch getrieben als die meisten seines kreises, und hatte an Theokrit und Pindar mehr als genippt (die Goethephilologen unterschätzen das), aber um Götter Helden und Wieland zu schreiben hat er die Alkestis beim pater Brumoy und nicht beim Euri- pides nachgelesen 10). der Iphigenie sieht man es in ihrer italienischen gestalt dann freilich an, daſs die wucht der trimeter der sophokleischen Elektra unmittelbar auf sie gewirkt hat. seine Helena hat den Troerinnen des Euripides nicht nur das eingangsmotiv und manches in den chor- liedern entlehnt, sondern die kunstform der antiken tragödie war ihm damals so sehr in der tiefsten bedeutsamkeit und in den äuſserlichsten stilkennzeichen lebendig geworden, wie es nur durch die originale möglich 10) Es macht sich doch etwas possierlich, daſs Goethe von ‘der königin der toten, der geleiterin zum Orkus’ redet, und diese gar ‘das unerbittliche schicksal’ nennt, weil dem Deutschen das männliche geschlecht des Todes die wiedergabe von la mort, cette orgueilleuse reine des ombres erschwert: an ἄνακτα τὸν μελάμπεπλον νεκρῶν Θάνατον denkt er nicht. Brumoy hat sich selbst darüber ausgesprochen, daſs er la mort gewagt hätte, wo die lateinischen übersetzer oreus gesetzt hatten (II 84 der ausgabe von 1730).

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/254>, abgerufen am 28.04.2024.