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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
wie weit der freie spielraum war. die tragiker und ihre frische und kühne
schaffenskraft stehen mitten inne zwischen dem conventionellen heroentum
des epos und dem conventionellen heroentum, das die spätere zeit aus
der tragödie selbst abstrahirt. und darum ist eine befreiung von diesen
beiden fesseln für jeden nötig, der sie verstehen will. eben dieselben
leute, welche über die typische stilisirung der tragödie klagen, reden dem
Aristophanes die klagen über die bettelhaftigkeit euripideischer helden
nach, die doch nur dadurch eingegeben sind, dass das athenische durch-
schnittspublicum, an die conventionelle epische stilisirung gewöhnt, es
unschicklich fand, dass könig Telephos sich trug und betrug wie ein armer
reisender von dazumal. die wahre kunst ist immer anachronistisch und
lässt ihre geschöpfe fühlen reden und sich tragen, wie sie es im leben
kennt, und sie lebt darum im widerstreite sowol mit dem conventionellen
stile, den sie überkommt, wie mit der trägkeit der denkfaulen zeitgenossen.
wer dem dichter gerecht werden will, wird ihn auf kosten des conven-
tionellen erheben. für unsere anschauung ist es ein greulicher zopf, dass
die classische tragödie Frankreichs nur könige oder doch standespersonen
als helden duldet und kein schnupftuch auf der bühne nennen kann: aber
ihre dichter sind dichter, weil Andromache eine vollblutfranzösin ist und
Mahomet der verbrecherische betrüger, den sich die aufklärung allein als
religionsstifter denken kann. eine ähnliche abstraction von dem conven-
tionellen costüm fordert auch die attische tragödie. ohne zweifel sind in
Euripides Orestes die personen ziemlich alle lumpen, wie die peripatetiker
klagen, aber deshalb ist das drama mit nichten schlecht. hier zeichnet Euri-
pides Helene als coquette weltdame und Menelaos als einen schwachmütigen
aber nicht bösartigen egoisten. ein par jahre zuvor war in der Helene der-
selbe als ein sentimentaler, wenig gescheiter aber im entscheidenden augen-
blicke entschlussfähiger mann, Helene als eine etwas verblühte tugendrose
neben dem polternden barbarischen dummkopf Theoklymenos eingeführt.
dass dies verfahren dem wesen der sage gewalt antat, und so der greise
dichter selbst den beweis lieferte, dass die tragödie ihre existenzberechtigung
verloren hatte, ist unbestreitbar: aber die bewusst geübte fähigkeit der in-
dividuellsten charakterzeichnung liegt zu tage. und ist etwa die aulische
Iphigeneia und ihr Achilleus, ist die verliebte Andromeda, ist Pentheus im
grössenwahnsinn nicht für alle zeiten damals charakterisirt, und ist die
flebilis Ino, die Medea ferox und auch die schwesterlichste Antigone,
der redliche Neoptolemos auf anderm wege als durch die dichterwillkür
der tragiker geschaffen?

Weil die dichter noch aus eigner machtvollkommenheit die ethe

Was ist eine attische tragödie?
wie weit der freie spielraum war. die tragiker und ihre frische und kühne
schaffenskraft stehen mitten inne zwischen dem conventionellen heroentum
des epos und dem conventionellen heroentum, das die spätere zeit aus
der tragödie selbst abstrahirt. und darum ist eine befreiung von diesen
beiden fesseln für jeden nötig, der sie verstehen will. eben dieselben
leute, welche über die typische stilisirung der tragödie klagen, reden dem
Aristophanes die klagen über die bettelhaftigkeit euripideischer helden
nach, die doch nur dadurch eingegeben sind, daſs das athenische durch-
schnittspublicum, an die conventionelle epische stilisirung gewöhnt, es
unschicklich fand, daſs könig Telephos sich trug und betrug wie ein armer
reisender von dazumal. die wahre kunst ist immer anachronistisch und
läſst ihre geschöpfe fühlen reden und sich tragen, wie sie es im leben
kennt, und sie lebt darum im widerstreite sowol mit dem conventionellen
stile, den sie überkommt, wie mit der trägkeit der denkfaulen zeitgenossen.
wer dem dichter gerecht werden will, wird ihn auf kosten des conven-
tionellen erheben. für unsere anschauung ist es ein greulicher zopf, daſs
die classische tragödie Frankreichs nur könige oder doch standespersonen
als helden duldet und kein schnupftuch auf der bühne nennen kann: aber
ihre dichter sind dichter, weil Andromache eine vollblutfranzösin ist und
Mahomet der verbrecherische betrüger, den sich die aufklärung allein als
religionsstifter denken kann. eine ähnliche abstraction von dem conven-
tionellen costüm fordert auch die attische tragödie. ohne zweifel sind in
Euripides Orestes die personen ziemlich alle lumpen, wie die peripatetiker
klagen, aber deshalb ist das drama mit nichten schlecht. hier zeichnet Euri-
pides Helene als coquette weltdame und Menelaos als einen schwachmütigen
aber nicht bösartigen egoisten. ein par jahre zuvor war in der Helene der-
selbe als ein sentimentaler, wenig gescheiter aber im entscheidenden augen-
blicke entschluſsfähiger mann, Helene als eine etwas verblühte tugendrose
neben dem polternden barbarischen dummkopf Theoklymenos eingeführt.
daſs dies verfahren dem wesen der sage gewalt antat, und so der greise
dichter selbst den beweis lieferte, daſs die tragödie ihre existenzberechtigung
verloren hatte, ist unbestreitbar: aber die bewuſst geübte fähigkeit der in-
dividuellsten charakterzeichnung liegt zu tage. und ist etwa die aulische
Iphigeneia und ihr Achilleus, ist die verliebte Andromeda, ist Pentheus im
gröſsenwahnsinn nicht für alle zeiten damals charakterisirt, und ist die
flebilis Ino, die Medea ferox und auch die schwesterlichste Antigone,
der redliche Neoptolemos auf anderm wege als durch die dichterwillkür
der tragiker geschaffen?

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[114/0134] Was ist eine attische tragödie? wie weit der freie spielraum war. die tragiker und ihre frische und kühne schaffenskraft stehen mitten inne zwischen dem conventionellen heroentum des epos und dem conventionellen heroentum, das die spätere zeit aus der tragödie selbst abstrahirt. und darum ist eine befreiung von diesen beiden fesseln für jeden nötig, der sie verstehen will. eben dieselben leute, welche über die typische stilisirung der tragödie klagen, reden dem Aristophanes die klagen über die bettelhaftigkeit euripideischer helden nach, die doch nur dadurch eingegeben sind, daſs das athenische durch- schnittspublicum, an die conventionelle epische stilisirung gewöhnt, es unschicklich fand, daſs könig Telephos sich trug und betrug wie ein armer reisender von dazumal. die wahre kunst ist immer anachronistisch und läſst ihre geschöpfe fühlen reden und sich tragen, wie sie es im leben kennt, und sie lebt darum im widerstreite sowol mit dem conventionellen stile, den sie überkommt, wie mit der trägkeit der denkfaulen zeitgenossen. wer dem dichter gerecht werden will, wird ihn auf kosten des conven- tionellen erheben. für unsere anschauung ist es ein greulicher zopf, daſs die classische tragödie Frankreichs nur könige oder doch standespersonen als helden duldet und kein schnupftuch auf der bühne nennen kann: aber ihre dichter sind dichter, weil Andromache eine vollblutfranzösin ist und Mahomet der verbrecherische betrüger, den sich die aufklärung allein als religionsstifter denken kann. eine ähnliche abstraction von dem conven- tionellen costüm fordert auch die attische tragödie. ohne zweifel sind in Euripides Orestes die personen ziemlich alle lumpen, wie die peripatetiker klagen, aber deshalb ist das drama mit nichten schlecht. hier zeichnet Euri- pides Helene als coquette weltdame und Menelaos als einen schwachmütigen aber nicht bösartigen egoisten. ein par jahre zuvor war in der Helene der- selbe als ein sentimentaler, wenig gescheiter aber im entscheidenden augen- blicke entschluſsfähiger mann, Helene als eine etwas verblühte tugendrose neben dem polternden barbarischen dummkopf Theoklymenos eingeführt. daſs dies verfahren dem wesen der sage gewalt antat, und so der greise dichter selbst den beweis lieferte, daſs die tragödie ihre existenzberechtigung verloren hatte, ist unbestreitbar: aber die bewuſst geübte fähigkeit der in- dividuellsten charakterzeichnung liegt zu tage. und ist etwa die aulische Iphigeneia und ihr Achilleus, ist die verliebte Andromeda, ist Pentheus im gröſsenwahnsinn nicht für alle zeiten damals charakterisirt, und ist die flebilis Ino, die Medea ferox und auch die schwesterlichste Antigone, der redliche Neoptolemos auf anderm wege als durch die dichterwillkür der tragiker geschaffen? Weil die dichter noch aus eigner machtvollkommenheit die ἤϑη

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/134>, abgerufen am 24.11.2024.