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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Moderne vorurteile.
und Natürliche tochter versteht nur, wer dem Goethe der aus Italien
heimkehrt in das reich des typisch symbolischen zu folgen vermag. nun
ist aber tatsächlich jener ansicht der boden entzogen: die tragiker em-
pfamgen ihre gestalten von der sage, und die liefert ihnen nicht greis und
schwester, sondern Oedipus und Antigone. und zugleich ist erklärt, wie
jener irrtum entstehen konnte: figuren, welche die sage prägt, tragen
allerdings nicht die zufälligkeiten eines modells an sich. vor allem aber
wirkt verwirrend, dass die tragischen gestalten für uns typisch geworden
sind. wir mögen ja in Antigone die schwesterlichste der seelen be-
wumdern, wobei wir das omon gennema ex omou patros vergessen.
aber dazu hat sie die gewalt der sophokleischen poesie und der von jahr-
humderten dieser zugestandene classische vorrang gemacht, und es ist nicht
damit gleichzusetzen, was sie für Sophokles und seine zeit war. bei
Seneca ruft die amme Medeas entsetzt ihre herrin an 'Medea', und diese
antwortet fiam: für sich selbst ist sie das typische bild der kindesmörderin,
die euripideische Medeia. wie sollte es erlaubt sein, Euripides selbst
schon ähnlich empfinden zu lassen, als er diese Medeia erst schafft.

Es könnte nun freilich scheinen, als lieferte die sage zugleich mit
dem stoffe die charaktere, und wenn die epischen dichter alle so viel
vermocht hätten, wie die welche Nausikaa und den Achill der Litai ge-
staltet haben, würde das auch zutreffen -- in dem falle würde aber freilich
auch die sage einer erneuerung durch die tragödie nicht bedurft haben.
in der überwiegenden menge von epen war von so ausgeführter charakte-
ristik nicht die rede; man denke nur an Hesiodos. schon der stoffreichtum
der meisten gedichte schloss das aus. ferner erhielt der tragiker auch durch
die wielgestaltigkeit der sage die freiheit. Odysseus, der göttliche dulder
des ionischen epos, war für die Dorer der verlogene Sisyphide; die Atreiden
des epos waren heldenkönige, die Pleistheniden des Stesichoros waren
frevler. mit ausnahme von ganz wenigen älteren schöpfungen hat tat-
sächlich erst das drama die charaktertypen aus den heroen gemacht, als
welche sie dann gegolten haben. wenn der peripatetiker lehrt sit Medea
ferox invictaque, flebilis Ino, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes
, so steht
er zu den charakteren wie Aristoteles zu den mythen, aus deren reichster
fülle er nur noch wenige praktisch verwertbar findet. die grossen tragiker
aber fühlten sich noch als freie herren, durften dies und jenes versuchen,
gebunden weder an fremde noch an eigene charakteristik: gebunden nur
an den muthos, nicht an die ethe. und wenn diese durch den muthos bis
zu einem gewissen grade vorgezeichnet erscheinen sollten, so genügt
ein hinweis auf die Elektra des Sophokles und Euripides um zu lehren,

v. Wilamowitz I. 8

Moderne vorurteile.
und Natürliche tochter versteht nur, wer dem Goethe der aus Italien
heimkehrt in das reich des typisch symbolischen zu folgen vermag. nun
ist aber tatsächlich jener ansicht der boden entzogen: die tragiker em-
pfamgen ihre gestalten von der sage, und die liefert ihnen nicht greis und
schwester, sondern Oedipus und Antigone. und zugleich ist erklärt, wie
jener irrtum entstehen konnte: figuren, welche die sage prägt, tragen
allerdings nicht die zufälligkeiten eines modells an sich. vor allem aber
wirkt verwirrend, daſs die tragischen gestalten für uns typisch geworden
sind. wir mögen ja in Antigone die schwesterlichste der seelen be-
wumdern, wobei wir das ὠμὸν γέννημα ἐξ ὠμοῦ πατρός vergessen.
aber dazu hat sie die gewalt der sophokleischen poesie und der von jahr-
humderten dieser zugestandene classische vorrang gemacht, und es ist nicht
damit gleichzusetzen, was sie für Sophokles und seine zeit war. bei
Seneca ruft die amme Medeas entsetzt ihre herrin an ‘Medea’, und diese
antwortet fiam: für sich selbst ist sie das typische bild der kindesmörderin,
die euripideische Medeia. wie sollte es erlaubt sein, Euripides selbst
schon ähnlich empfinden zu lassen, als er diese Medeia erst schafft.

Es könnte nun freilich scheinen, als lieferte die sage zugleich mit
dem stoffe die charaktere, und wenn die epischen dichter alle so viel
vermocht hätten, wie die welche Nausikaa und den Achill der Litai ge-
staltet haben, würde das auch zutreffen — in dem falle würde aber freilich
auch die sage einer erneuerung durch die tragödie nicht bedurft haben.
in der überwiegenden menge von epen war von so ausgeführter charakte-
ristik nicht die rede; man denke nur an Hesiodos. schon der stoffreichtum
der meisten gedichte schloſs das aus. ferner erhielt der tragiker auch durch
die wielgestaltigkeit der sage die freiheit. Odysseus, der göttliche dulder
des ionischen epos, war für die Dorer der verlogene Sisyphide; die Atreiden
des epos waren heldenkönige, die Pleistheniden des Stesichoros waren
frevler. mit ausnahme von ganz wenigen älteren schöpfungen hat tat-
sächlich erst das drama die charaktertypen aus den heroen gemacht, als
welche sie dann gegolten haben. wenn der peripatetiker lehrt sit Medea
ferox invictaque, flebilis Ino, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes
, so steht
er zu den charakteren wie Aristoteles zu den mythen, aus deren reichster
fülle er nur noch wenige praktisch verwertbar findet. die groſsen tragiker
aber fühlten sich noch als freie herren, durften dies und jenes versuchen,
gebunden weder an fremde noch an eigene charakteristik: gebunden nur
an den μῦϑος, nicht an die ἤϑη. und wenn diese durch den μῦϑος bis
zu einem gewissen grade vorgezeichnet erscheinen sollten, so genügt
ein hinweis auf die Elektra des Sophokles und Euripides um zu lehren,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/133>, abgerufen am 27.04.2024.