der sie erzeugt seine individualität wol gar im gegensatze zu dem volke empfindet und hervorkehrt. das wird eintreten, wenn eine weile in leerer trägheit nur noch das vorhandene sagenmaterial weitergegeben ist, ohne wesentlich vertieft und bereichert zu werden. und es kann dieses ge- dankenlose weitergeben des einmal formirten stoffes noch lange zeit neben neuen revolutionären bestrebungen einzelner dichter fortbestehen: aber das kommt kaum noch in betracht. auch für die sage ist die ruhe der tod.
Sie ist ein strom geschmolzenen metalls. es rinnt dahin, verzehrend und einschmelzend was in seinen weg kommt, schlacken abstossend, blasen werfend, bis die hitze verflogen ist: dann liegt es starr und kalt und tot: aber es bewahrt nur in dieser starrheit seine form. so können wir die sage nur in dem erstarrten zustande erfassen, der ihr ermöglichte zu dauern, während sie, so lange sie lebte, dem wechsel unterworfen war. ersichtlich handelt es sich also für ihre beurteilung und ihr ver- ständnis wesentlich um den zustand, in welchem sie erstarrte, d. h. dauernde form gewann. da wollen wir denn aber kurzer hand die all- gemeine art zu reden aufgeben und ganz einfach die tatsachen der hel- lenischen sagengeschichte überschauen.
In Ionien hat sich für die sage das rechte gefäss gebildet, das home-Die helden- sage; ihre geschichte. rische epos, und hat sich ein stand gebildet, der sich dem singen und sagen, dem vertriebe des epos, berufsmässig widmete. das ward für alle folgezeit entscheidend. gewiss wollen wir nicht unterschätzen, dass sich in diesem stande eine anzahl bedeutender dichter befunden haben, welche den stil des epos feststellten und musterstücke schufen, die sich die jahr- hunderte hindurch in der gunst des volkes behaupteten. es war aber auch das für die ganze entwickelung des epos von segensreichstem ein- flusse, dass die Ionier das epos selbst oder vielmehr seinen keim von den Aeolern entlehnten, und dass sich diese entlehnung auch auf den stoff erstreckte, die kämpfe um Ilios und eine reihe heroengestalten. denn sofort erwuchs nun für die dichter des epos die aufgabe, da sie doch vornehmlich die heroen des eigenen volkes verherrlichen sollten und wollten, diese in das epos einzuführen, d. h. auf den gegebenen schau- platz und in die gegebene umgebung zu bringen. so entstand von selbst ein sagenkreis, der sich räumlich und zeitlich zwar bequem ausdehnen liess, aber doch die nötigung den dichtern auferlegte, mit ihren neu- schöpfungen anschluss zu suchen. so rückten die helden vieler städte, die ahnen vieler geschlechter, die in wahrheit zeitlos sein mochten, oder auch ganz verschiedenen zeiten angehörten, in ein par generationen zu-
Die heldensage; ihr wesen; ihre geschichte.
der sie erzeugt seine individualität wol gar im gegensatze zu dem volke empfindet und hervorkehrt. das wird eintreten, wenn eine weile in leerer trägheit nur noch das vorhandene sagenmaterial weitergegeben ist, ohne wesentlich vertieft und bereichert zu werden. und es kann dieses ge- dankenlose weitergeben des einmal formirten stoffes noch lange zeit neben neuen revolutionären bestrebungen einzelner dichter fortbestehen: aber das kommt kaum noch in betracht. auch für die sage ist die ruhe der tod.
Sie ist ein strom geschmolzenen metalls. es rinnt dahin, verzehrend und einschmelzend was in seinen weg kommt, schlacken abstoſsend, blasen werfend, bis die hitze verflogen ist: dann liegt es starr und kalt und tot: aber es bewahrt nur in dieser starrheit seine form. so können wir die sage nur in dem erstarrten zustande erfassen, der ihr ermöglichte zu dauern, während sie, so lange sie lebte, dem wechsel unterworfen war. ersichtlich handelt es sich also für ihre beurteilung und ihr ver- ständnis wesentlich um den zustand, in welchem sie erstarrte, d. h. dauernde form gewann. da wollen wir denn aber kurzer hand die all- gemeine art zu reden aufgeben und ganz einfach die tatsachen der hel- lenischen sagengeschichte überschauen.
In Ionien hat sich für die sage das rechte gefäſs gebildet, das home-Die helden- sage; ihre geschichte. rische epos, und hat sich ein stand gebildet, der sich dem singen und sagen, dem vertriebe des epos, berufsmäſsig widmete. das ward für alle folgezeit entscheidend. gewiſs wollen wir nicht unterschätzen, daſs sich in diesem stande eine anzahl bedeutender dichter befunden haben, welche den stil des epos feststellten und musterstücke schufen, die sich die jahr- hunderte hindurch in der gunst des volkes behaupteten. es war aber auch das für die ganze entwickelung des epos von segensreichstem ein- flusse, daſs die Ionier das epos selbst oder vielmehr seinen keim von den Aeolern entlehnten, und daſs sich diese entlehnung auch auf den stoff erstreckte, die kämpfe um Ilios und eine reihe heroengestalten. denn sofort erwuchs nun für die dichter des epos die aufgabe, da sie doch vornehmlich die heroen des eigenen volkes verherrlichen sollten und wollten, diese in das epos einzuführen, d. h. auf den gegebenen schau- platz und in die gegebene umgebung zu bringen. so entstand von selbst ein sagenkreis, der sich räumlich und zeitlich zwar bequem ausdehnen lieſs, aber doch die nötigung den dichtern auferlegte, mit ihren neu- schöpfungen anschluſs zu suchen. so rückten die helden vieler städte, die ahnen vieler geschlechter, die in wahrheit zeitlos sein mochten, oder auch ganz verschiedenen zeiten angehörten, in ein par generationen zu-
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[101/0121]
Die heldensage; ihr wesen; ihre geschichte.
der sie erzeugt seine individualität wol gar im gegensatze zu dem volke
empfindet und hervorkehrt. das wird eintreten, wenn eine weile in leerer
trägheit nur noch das vorhandene sagenmaterial weitergegeben ist, ohne
wesentlich vertieft und bereichert zu werden. und es kann dieses ge-
dankenlose weitergeben des einmal formirten stoffes noch lange zeit
neben neuen revolutionären bestrebungen einzelner dichter fortbestehen:
aber das kommt kaum noch in betracht. auch für die sage ist die ruhe
der tod.
Sie ist ein strom geschmolzenen metalls. es rinnt dahin, verzehrend
und einschmelzend was in seinen weg kommt, schlacken abstoſsend,
blasen werfend, bis die hitze verflogen ist: dann liegt es starr und kalt
und tot: aber es bewahrt nur in dieser starrheit seine form. so können
wir die sage nur in dem erstarrten zustande erfassen, der ihr ermöglichte
zu dauern, während sie, so lange sie lebte, dem wechsel unterworfen
war. ersichtlich handelt es sich also für ihre beurteilung und ihr ver-
ständnis wesentlich um den zustand, in welchem sie erstarrte, d. h.
dauernde form gewann. da wollen wir denn aber kurzer hand die all-
gemeine art zu reden aufgeben und ganz einfach die tatsachen der hel-
lenischen sagengeschichte überschauen.
In Ionien hat sich für die sage das rechte gefäſs gebildet, das home-
rische epos, und hat sich ein stand gebildet, der sich dem singen und
sagen, dem vertriebe des epos, berufsmäſsig widmete. das ward für alle
folgezeit entscheidend. gewiſs wollen wir nicht unterschätzen, daſs sich
in diesem stande eine anzahl bedeutender dichter befunden haben, welche
den stil des epos feststellten und musterstücke schufen, die sich die jahr-
hunderte hindurch in der gunst des volkes behaupteten. es war aber
auch das für die ganze entwickelung des epos von segensreichstem ein-
flusse, daſs die Ionier das epos selbst oder vielmehr seinen keim von den
Aeolern entlehnten, und daſs sich diese entlehnung auch auf den stoff
erstreckte, die kämpfe um Ilios und eine reihe heroengestalten. denn
sofort erwuchs nun für die dichter des epos die aufgabe, da sie doch
vornehmlich die heroen des eigenen volkes verherrlichen sollten und
wollten, diese in das epos einzuführen, d. h. auf den gegebenen schau-
platz und in die gegebene umgebung zu bringen. so entstand von selbst
ein sagenkreis, der sich räumlich und zeitlich zwar bequem ausdehnen
lieſs, aber doch die nötigung den dichtern auferlegte, mit ihren neu-
schöpfungen anschluſs zu suchen. so rückten die helden vieler städte,
die ahnen vieler geschlechter, die in wahrheit zeitlos sein mochten, oder
auch ganz verschiedenen zeiten angehörten, in ein par generationen zu-
Die helden-
sage; ihre
geschichte.
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/121>, abgerufen am 05.07.2024.
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