Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Was ist eine attische tragödie? dem sinne ist es wahr, dass Homer und Hesiod den Hellenen ihre theogonieschaffen. wie alle andern sagen, werden auch diese in einem beständiger flusse bleiben entsprechend der umformung des sittlichkeitsideales und der erweiterung des empirischen wissens. und wie die philosophia des volkes sich allmählich ein weltbild macht, so wird sie auch versuchen einen zusammenhang in die vereinzelten göttersagen und personen zu bringen. aber die schwierigkeit des abstracten gegenstandes bedingt schon allein, dass dies verhältnismässig spät geschieht, und weit gefehlt, dass die göttersage vor der heldensage vorhergienge, diese also ausgeartete 'mythologie' wäre und Ilios eigentlich eine wolkenburg bedeutete, borgt vielmehr Hesiod von Homer, trägt die göttersage oft farben der heroen- sage und hat heroisch zugestutzte göttersage wie die theomakhia oder die Titanomachie für die religion nicht höheren wert als für die poesie. 63) So fassen wir also die sage als die istoria kai philosophia des Wenn wir nun wissen, was sie ist, so verstehen wir auch leicht ihre 63) Ein schlagendes beispiel sind die Dios gonai, wie sie schon Hesiod erzählt.
das zum höchsten berufene kind, von einem tyrannen verfolgt, ausgesetzt, von den tieren des waldes gepflegt, schliesslich herrlich erwachsen und wunderbar zum siege geführt: ein allbekanntes motiv der heroensage. das ist widersinnig für den himmels- herrn, den die religion sich nur ewig denken kann, und für die religion hat es auch nirgend etwas bedeutet, als in dem Kretischen winkel etwa, wo der Zeus der ge- boren ward auch begraben lag. die besonderen verhältnisse dort fordern für sich eine aufklärung, und die funde der Idäischen grotte zeigen wol, dass die religion, welche hinter dieser hellenischen sage sich verbirgt, keine hellenische war. Was ist eine attische tragödie? dem sinne ist es wahr, daſs Homer und Hesiod den Hellenen ihre ϑεογονίηschaffen. wie alle andern sagen, werden auch diese in einem beständiger flusse bleiben entsprechend der umformung des sittlichkeitsideales und der erweiterung des empirischen wissens. und wie die φιλοσοφία des volkes sich allmählich ein weltbild macht, so wird sie auch versuchen einen zusammenhang in die vereinzelten göttersagen und personen zu bringen. aber die schwierigkeit des abstracten gegenstandes bedingt schon allein, daſs dies verhältnismäſsig spät geschieht, und weit gefehlt, daſs die göttersage vor der heldensage vorhergienge, diese also ausgeartete ‘mythologie’ wäre und Ilios eigentlich eine wolkenburg bedeutete, borgt vielmehr Hesiod von Homer, trägt die göttersage oft farben der heroen- sage und hat heroisch zugestutzte göttersage wie die ϑεομαχία oder die Titanomachie für die religion nicht höheren wert als für die poesie. 63) So fassen wir also die sage als die ἱστορία καὶ φιλοσοφία des Wenn wir nun wissen, was sie ist, so verstehen wir auch leicht ihre 63) Ein schlagendes beispiel sind die Διὸς γοναί, wie sie schon Hesiod erzählt.
das zum höchsten berufene kind, von einem tyrannen verfolgt, ausgesetzt, von den tieren des waldes gepflegt, schlieſslich herrlich erwachsen und wunderbar zum siege geführt: ein allbekanntes motiv der heroensage. das ist widersinnig für den himmels- herrn, den die religion sich nur ewig denken kann, und für die religion hat es auch nirgend etwas bedeutet, als in dem Kretischen winkel etwa, wo der Zeus der ge- boren ward auch begraben lag. die besonderen verhältnisse dort fordern für sich eine aufklärung, und die funde der Idäischen grotte zeigen wol, daſs die religion, welche hinter dieser hellenischen sage sich verbirgt, keine hellenische war. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0120" n="100"/><fw place="top" type="header">Was ist eine attische tragödie?</fw><lb/> dem sinne ist es wahr, daſs Homer und Hesiod den Hellenen ihre ϑεογονίη<lb/> schaffen. wie alle andern sagen, werden auch diese in einem beständiger<lb/> flusse bleiben entsprechend der umformung des sittlichkeitsideales und<lb/> der erweiterung des empirischen wissens. und wie die φιλοσοφία des<lb/> volkes sich allmählich ein weltbild macht, so wird sie auch versuchen<lb/> einen zusammenhang in die vereinzelten göttersagen und personen zu<lb/> bringen. aber die schwierigkeit des abstracten gegenstandes bedingt schon<lb/> allein, daſs dies verhältnismäſsig spät geschieht, und weit gefehlt, daſs<lb/> die göttersage vor der heldensage vorhergienge, diese also ausgeartete<lb/> ‘mythologie’ wäre und Ilios eigentlich eine wolkenburg bedeutete, borgt<lb/> vielmehr Hesiod von Homer, trägt die göttersage oft farben der heroen-<lb/> sage und hat heroisch zugestutzte göttersage wie die ϑεομαχία oder die<lb/> Titanomachie für die religion nicht höheren wert als für die poesie. <note place="foot" n="63)">Ein schlagendes beispiel sind die Διὸς γοναί, wie sie schon Hesiod erzählt.<lb/> das zum höchsten berufene kind, von einem tyrannen verfolgt, ausgesetzt, von den<lb/> tieren des waldes gepflegt, schlieſslich herrlich erwachsen und wunderbar zum siege<lb/> geführt: ein allbekanntes motiv der heroensage. das ist widersinnig für den himmels-<lb/> herrn, den die religion sich nur ewig denken kann, und für die religion hat es auch<lb/> nirgend etwas bedeutet, als in dem Kretischen winkel etwa, wo der Zeus der ge-<lb/> boren ward auch begraben lag. die besonderen verhältnisse dort fordern für sich<lb/> eine aufklärung, und die funde der Idäischen grotte zeigen wol, daſs die religion,<lb/> welche hinter dieser hellenischen sage sich verbirgt, keine hellenische war.</note></p><lb/> <p>So fassen wir also die sage als die ἱστορία καὶ φιλοσοφία des<lb/> volkes zu einer zeit, wo das volk nur concret, in der form einer ge-<lb/> schichte, eines μῦϑος, zu denken vermag, so daſs sich auch die vor-<lb/> stellungen von zuständen nur in den bildern handelnder personen fassen<lb/> lassen, wo endlich die unterschiede in der empfindung und der geistes-<lb/> kraft der einzelnen individuen noch nicht so stark sind, um den eindruck<lb/> eines gemeinsamen empfindens und denkens zu stören, so daſs wir ledig-<lb/> lich das volk als das alleinige subject erkennen und anerkennen. das<lb/> weltbild, welches die sage auffaſst, ist dem, welches ein dichter gibt, völlig<lb/> analog; das volk schafft es sich auch in wahrheit nicht wie ein dichter,<lb/> sondern als dichter. es redet eben noch seine muttersprache, die poesie:<lb/> die ungeschriebene litteratur dieser muttersprache ist die sage.</p><lb/> <p>Wenn wir nun wissen, was sie ist, so verstehen wir auch leicht ihre<lb/> geschichte. aufhören wird die sage niemals, so lange dichter aufstehen,<lb/> die den erzeugnissen ihrer phantasie die lebenskraft zu verleihen ver-<lb/> stehen, daſs sie die herzen des volkes erobern und dauernd behaupten.<lb/> aber es macht doch einen entscheidenden abschnitt, wenn das volk als<lb/> collective einheit nicht mehr der producent der sage ist, und der dichter<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [100/0120]
Was ist eine attische tragödie?
dem sinne ist es wahr, daſs Homer und Hesiod den Hellenen ihre ϑεογονίη
schaffen. wie alle andern sagen, werden auch diese in einem beständiger
flusse bleiben entsprechend der umformung des sittlichkeitsideales und
der erweiterung des empirischen wissens. und wie die φιλοσοφία des
volkes sich allmählich ein weltbild macht, so wird sie auch versuchen
einen zusammenhang in die vereinzelten göttersagen und personen zu
bringen. aber die schwierigkeit des abstracten gegenstandes bedingt schon
allein, daſs dies verhältnismäſsig spät geschieht, und weit gefehlt, daſs
die göttersage vor der heldensage vorhergienge, diese also ausgeartete
‘mythologie’ wäre und Ilios eigentlich eine wolkenburg bedeutete, borgt
vielmehr Hesiod von Homer, trägt die göttersage oft farben der heroen-
sage und hat heroisch zugestutzte göttersage wie die ϑεομαχία oder die
Titanomachie für die religion nicht höheren wert als für die poesie. 63)
So fassen wir also die sage als die ἱστορία καὶ φιλοσοφία des
volkes zu einer zeit, wo das volk nur concret, in der form einer ge-
schichte, eines μῦϑος, zu denken vermag, so daſs sich auch die vor-
stellungen von zuständen nur in den bildern handelnder personen fassen
lassen, wo endlich die unterschiede in der empfindung und der geistes-
kraft der einzelnen individuen noch nicht so stark sind, um den eindruck
eines gemeinsamen empfindens und denkens zu stören, so daſs wir ledig-
lich das volk als das alleinige subject erkennen und anerkennen. das
weltbild, welches die sage auffaſst, ist dem, welches ein dichter gibt, völlig
analog; das volk schafft es sich auch in wahrheit nicht wie ein dichter,
sondern als dichter. es redet eben noch seine muttersprache, die poesie:
die ungeschriebene litteratur dieser muttersprache ist die sage.
Wenn wir nun wissen, was sie ist, so verstehen wir auch leicht ihre
geschichte. aufhören wird die sage niemals, so lange dichter aufstehen,
die den erzeugnissen ihrer phantasie die lebenskraft zu verleihen ver-
stehen, daſs sie die herzen des volkes erobern und dauernd behaupten.
aber es macht doch einen entscheidenden abschnitt, wenn das volk als
collective einheit nicht mehr der producent der sage ist, und der dichter
63) Ein schlagendes beispiel sind die Διὸς γοναί, wie sie schon Hesiod erzählt.
das zum höchsten berufene kind, von einem tyrannen verfolgt, ausgesetzt, von den
tieren des waldes gepflegt, schlieſslich herrlich erwachsen und wunderbar zum siege
geführt: ein allbekanntes motiv der heroensage. das ist widersinnig für den himmels-
herrn, den die religion sich nur ewig denken kann, und für die religion hat es auch
nirgend etwas bedeutet, als in dem Kretischen winkel etwa, wo der Zeus der ge-
boren ward auch begraben lag. die besonderen verhältnisse dort fordern für sich
eine aufklärung, und die funde der Idäischen grotte zeigen wol, daſs die religion,
welche hinter dieser hellenischen sage sich verbirgt, keine hellenische war.
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