den Horaz übertrifft. es war also zunächst vielleicht ein ganz leichter übergang, dass der sprecher das bockskleid nahm; jedenfalls verhielt er sich zu dem rhapsoden der iamben genau wie der bockschor zum ge- wöhnlichen dithyrambischen chore. dass der sprecher auch bock war, folgt aus der tatsache, dass das satyrspiel noch bei Euripides einen satyr neben dem chore als schauspieler hat, und dieser vater der satyrn über- haupt eine ebenso feste person desselben blieb wie der satyrchor.
So hatte sich die vereinigung der ionischen und dorischen poesie vollzogen, vollzogen an einem dritten orte, wo für beides empfänglichkeit vorhanden war, wo aber beides nicht zu hause war. und beides trat als etwas fertiges neben einander; ganz verschmolzen hat es sich nie. so lange es eine tragödie gegeben hat, hat der dichter für die gesprochenen verse im der einen, für die gesungenen in der andern mundart dichten müssen; und beide waren nicht die seiner heimat noch seiner sänger noch seiner hörer. das ihnen allen gemeinsame attisch hat wol allmählich immer stärkeren einfluss auf alle teile der tragödie gewonnen, hat also den gegensatz verringert; wie denn die von den Athenern übernommenen mund- arten selbst schon nicht mehr rein waren; aber ganz verschwunden sind die unterschiede nie, oder vielmehr erst in der neuen komödie, welche dafür auch den chor und damit den religiös festlichen charakter eingebüsst hat.
Erst in der neuen komödie hat auch das dramatische gesiegt. im sechstem jahrhundert wird davon kaum eine spur gewesen sein, und Thespis hat sich von der tragweite seiner erfindung nichts träumen lassen. aber dem stein war im rollen; schrittweise gieng es vorwärts, bald sprung- weise; wierzig jahre etwa hat es gedauert, für das was zu leisten war, eine kurze frist. man hatte also den satyrchor, und 'wenn noch einer dazu kam', so hatte man ein epeisodion. dass dem chore eine 'vor- rede', [p]rologos, in iamben vorhergieng, ist erst etwas späteres; in den siebziger jahren des 5. jahrhunderts kommt es neben der andern weise vor, aber es stand vollkommen fest, als die komödie ihre formen bildete. der sprecher brachte zunächst nichts dramatisches mit; er brauchte ja nur zu erzählen oder an den chor eine rede zu richten, die diesem zu neuen tänzen und gesängen anlass gab. aber es fand sich bald die nötigung, den chor auch in gesprochener rede erwidern zu lassen, und da er das in voller menge nicht konnte, so sonderte sich von ihm der chorführer ab. nun sprach einer für alle; zu einer persönlichkeit unter- schiedem vom chor hat es dieser sprecher aber nie gebracht. seine stellung hat nie gewechselt, besteht aber überall, so weit wir denkmäler haben. nun war es wahrlich keine sehr kühne tat, entweder den sprecher einmal
Satyrspiel und tragödie.
den Horaz übertrifft. es war also zunächst vielleicht ein ganz leichter übergang, daſs der sprecher das bockskleid nahm; jedenfalls verhielt er sich zu dem rhapsoden der iamben genau wie der bockschor zum ge- wöhnlichen dithyrambischen chore. daſs der sprecher auch bock war, folgt aus der tatsache, daſs das satyrspiel noch bei Euripides einen satyr neben dem chore als schauspieler hat, und dieser vater der satyrn über- haupt eine ebenso feste person desselben blieb wie der satyrchor.
So hatte sich die vereinigung der ionischen und dorischen poesie vollzogen, vollzogen an einem dritten orte, wo für beides empfänglichkeit vorhanden war, wo aber beides nicht zu hause war. und beides trat als etwas fertiges neben einander; ganz verschmolzen hat es sich nie. so lange es eine tragödie gegeben hat, hat der dichter für die gesprochenen verse im der einen, für die gesungenen in der andern mundart dichten müssen; und beide waren nicht die seiner heimat noch seiner sänger noch seiner hörer. das ihnen allen gemeinsame attisch hat wol allmählich immer stärkeren einfluſs auf alle teile der tragödie gewonnen, hat also den gegensatz verringert; wie denn die von den Athenern übernommenen mund- arten selbst schon nicht mehr rein waren; aber ganz verschwunden sind die unterschiede nie, oder vielmehr erst in der neuen komödie, welche dafür auch den chor und damit den religiös festlichen charakter eingebüſst hat.
Erst in der neuen komödie hat auch das dramatische gesiegt. im sechstem jahrhundert wird davon kaum eine spur gewesen sein, und Thespis hat sich von der tragweite seiner erfindung nichts träumen lassen. aber dem stein war im rollen; schrittweise gieng es vorwärts, bald sprung- weise; wierzig jahre etwa hat es gedauert, für das was zu leisten war, eine kurze frist. man hatte also den satyrchor, und ‘wenn noch einer dazu kam’, so hatte man ein ἐπεισόδιον. daſs dem chore eine ‘vor- rede’, [π]ρόλογος, in iamben vorhergieng, ist erst etwas späteres; in den siebziger jahren des 5. jahrhunderts kommt es neben der andern weise vor, aber es stand vollkommen fest, als die komödie ihre formen bildete. der sprecher brachte zunächst nichts dramatisches mit; er brauchte ja nur zu erzählen oder an den chor eine rede zu richten, die diesem zu neuen tänzen und gesängen anlaſs gab. aber es fand sich bald die nötigung, den chor auch in gesprochener rede erwidern zu lassen, und da er das in voller menge nicht konnte, so sonderte sich von ihm der chorführer ab. nun sprach einer für alle; zu einer persönlichkeit unter- schiedem vom chor hat es dieser sprecher aber nie gebracht. seine stellung hat nie gewechselt, besteht aber überall, so weit wir denkmäler haben. nun war es wahrlich keine sehr kühne tat, entweder den sprecher einmal
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[87/0107]
Satyrspiel und tragödie.
den Horaz übertrifft. es war also zunächst vielleicht ein ganz leichter
übergang, daſs der sprecher das bockskleid nahm; jedenfalls verhielt er
sich zu dem rhapsoden der iamben genau wie der bockschor zum ge-
wöhnlichen dithyrambischen chore. daſs der sprecher auch bock war,
folgt aus der tatsache, daſs das satyrspiel noch bei Euripides einen satyr
neben dem chore als schauspieler hat, und dieser vater der satyrn über-
haupt eine ebenso feste person desselben blieb wie der satyrchor.
So hatte sich die vereinigung der ionischen und dorischen poesie
vollzogen, vollzogen an einem dritten orte, wo für beides empfänglichkeit
vorhanden war, wo aber beides nicht zu hause war. und beides trat als
etwas fertiges neben einander; ganz verschmolzen hat es sich nie. so
lange es eine tragödie gegeben hat, hat der dichter für die gesprochenen
verse im der einen, für die gesungenen in der andern mundart dichten
müssen; und beide waren nicht die seiner heimat noch seiner sänger
noch seiner hörer. das ihnen allen gemeinsame attisch hat wol allmählich
immer stärkeren einfluſs auf alle teile der tragödie gewonnen, hat also den
gegensatz verringert; wie denn die von den Athenern übernommenen mund-
arten selbst schon nicht mehr rein waren; aber ganz verschwunden sind die
unterschiede nie, oder vielmehr erst in der neuen komödie, welche dafür
auch den chor und damit den religiös festlichen charakter eingebüſst hat.
Erst in der neuen komödie hat auch das dramatische gesiegt. im
sechstem jahrhundert wird davon kaum eine spur gewesen sein, und
Thespis hat sich von der tragweite seiner erfindung nichts träumen lassen.
aber dem stein war im rollen; schrittweise gieng es vorwärts, bald sprung-
weise; wierzig jahre etwa hat es gedauert, für das was zu leisten war,
eine kurze frist. man hatte also den satyrchor, und ‘wenn noch einer
dazu kam’, so hatte man ein ἐπεισόδιον. daſs dem chore eine ‘vor-
rede’, πρόλογος, in iamben vorhergieng, ist erst etwas späteres; in den
siebziger jahren des 5. jahrhunderts kommt es neben der andern weise
vor, aber es stand vollkommen fest, als die komödie ihre formen bildete.
der sprecher brachte zunächst nichts dramatisches mit; er brauchte ja
nur zu erzählen oder an den chor eine rede zu richten, die diesem zu
neuen tänzen und gesängen anlaſs gab. aber es fand sich bald die
nötigung, den chor auch in gesprochener rede erwidern zu lassen, und
da er das in voller menge nicht konnte, so sonderte sich von ihm der
chorführer ab. nun sprach einer für alle; zu einer persönlichkeit unter-
schiedem vom chor hat es dieser sprecher aber nie gebracht. seine stellung
hat nie gewechselt, besteht aber überall, so weit wir denkmäler haben.
nun war es wahrlich keine sehr kühne tat, entweder den sprecher einmal
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/107>, abgerufen am 05.07.2024.
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