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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Verteidigung der reichspolitik.
Kleons als milde und menschlich erscheinen zu lassen, die herrschaft
der reaction unter den spartanischen harmosten und den oligarchischen
dekarchien von 405--395. was man so findet, sagt der Panathenaikos
mit klaren worten. aber so frei durfte die panhellenische rede 380
nicht mit der sprache herausgehn, deshalb erfahren bestimmt gemeinte
und den hörern kenntliche aber ungenannte ankläger Athens all die
eigentlich den Spartanern zugedachten angriffe, und es wird sogar mit
einer feinen wendung zwischen den guten Lakonen und den bösen
lakonisten unterschieden. dass in der tat die zeit vom fall des Reiches
bis zum königsfrieden hier geschildert werden soll, bestätigt sich in dem
nächsten abschnitt, denn § 115 setzt unmittelbar so ein: "auch der
königsfriede mit seiner auf dem papier garantirten autonomie verdient
vor unserer herrschaft nicht den vorzug." dazwischen steht, scheinbar
als ein verlorner gedanke "was jene getan haben, sind dinge die absolut
nicht wieder gut zu machen sind: unsere härten hätte ein volks-
beschluss auszugleichen genügt". Isokrates schreibt mit einer weithin
reichenden und ins einzelne verfolgbaren disposition; auch hier hält und
stützt sich alles gegenseitig, nur dieser gedanke, den er selbst als einen
allgemeinen (tosouton eipein ekho kath apanton), einen capitalsatz,
ein kephalaion8) bezeichnet und an den schluss stellt, fällt scheinbar
heraus. das heisst, er muss eine besondere bedeutung haben. wahrlich
nicht als geschichtliche wahrheit; denn die erschlagnen Melier machte
kein psephisma lebendig noch die verkauften frei: so angesehen ist es
eine törichte phrase. das hört sie auf zu sein, wenn wir sehen, wie ein
psephisma, das des Aristoteles, wirklich alle die beschwerden, die man
gegen die Reichsverfassung erhoben hatte, beseitigt: die autonomie in
justiz und verwaltung wird zugestanden, die kleruchien und besatzungen
werden verboten, die tribute, die nicht hier, aber im Panathenaikos be-
rührt werden, als solche auch ausgeschlossen. gerade hier sieht man
am deutlichsten, dass Isokrates die tendenzen sehr wol kennt, die zwei
jahre später den neuen bund begründeten, der allen befürchtungen der
alten untertanen rechnung trug. auch der hass gegen Sparta, der hier
mehr oder minder versteckt ist, steht in der bundesurkunde offen aus-
gesprochen: der publicist hatte die öffentliche meinung gut bearbeitet.


8) Kath apanton eipein sagt er hier, 114. kephalaion ton eiremenon steht
am schlusse des Nikokles 62. dort ist es die zur gnome condensirte paraenese,
hier das politische schlagwort. das musste sich ein volksredner freilich erst noch
etwas ummodeln, aber en psephisma panta tagklemata dialusetai war doch eine
gute antwort auf alle bündnerischen bedenklichkeiten.
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Verteidigung der reichspolitik.
Kleons als milde und menschlich erscheinen zu lassen, die herrschaft
der reaction unter den spartanischen harmosten und den oligarchischen
dekarchien von 405—395. was man so findet, sagt der Panathenaikos
mit klaren worten. aber so frei durfte die panhellenische rede 380
nicht mit der sprache herausgehn, deshalb erfahren bestimmt gemeinte
und den hörern kenntliche aber ungenannte ankläger Athens all die
eigentlich den Spartanern zugedachten angriffe, und es wird sogar mit
einer feinen wendung zwischen den guten Lakonen und den bösen
lakonisten unterschieden. daſs in der tat die zeit vom fall des Reiches
bis zum königsfrieden hier geschildert werden soll, bestätigt sich in dem
nächsten abschnitt, denn § 115 setzt unmittelbar so ein: “auch der
königsfriede mit seiner auf dem papier garantirten autonomie verdient
vor unserer herrschaft nicht den vorzug.” dazwischen steht, scheinbar
als ein verlorner gedanke “was jene getan haben, sind dinge die absolut
nicht wieder gut zu machen sind: unsere härten hätte ein volks-
beschluſs auszugleichen genügt”. Isokrates schreibt mit einer weithin
reichenden und ins einzelne verfolgbaren disposition; auch hier hält und
stützt sich alles gegenseitig, nur dieser gedanke, den er selbst als einen
allgemeinen (τοσοῦτον εἰπεῖν ἔχω καϑ̕ ἁπάντων), einen capitalsatz,
ein κεφάλαιον8) bezeichnet und an den schluſs stellt, fällt scheinbar
heraus. das heiſst, er muſs eine besondere bedeutung haben. wahrlich
nicht als geschichtliche wahrheit; denn die erschlagnen Melier machte
kein psephisma lebendig noch die verkauften frei: so angesehen ist es
eine törichte phrase. das hört sie auf zu sein, wenn wir sehen, wie ein
psephisma, das des Aristoteles, wirklich alle die beschwerden, die man
gegen die Reichsverfassung erhoben hatte, beseitigt: die autonomie in
justiz und verwaltung wird zugestanden, die kleruchien und besatzungen
werden verboten, die tribute, die nicht hier, aber im Panathenaikos be-
rührt werden, als solche auch ausgeschlossen. gerade hier sieht man
am deutlichsten, daſs Isokrates die tendenzen sehr wol kennt, die zwei
jahre später den neuen bund begründeten, der allen befürchtungen der
alten untertanen rechnung trug. auch der haſs gegen Sparta, der hier
mehr oder minder versteckt ist, steht in der bundesurkunde offen aus-
gesprochen: der publicist hatte die öffentliche meinung gut bearbeitet.


8) Καϑ̕ ἁπάντων εἰπεῖν sagt er hier, 114. κεφάλαιον τῶν εἰϱημένων steht
am schlusse des Nikokles 62. dort ist es die zur gnome condensirte paraenese,
hier das politische schlagwort. das muſste sich ein volksredner freilich erst noch
etwas ummodeln, aber ἓν ψήφισμα πάντα τἀγκλήματα διαλύσεται war doch eine
gute antwort auf alle bündnerischen bedenklichkeiten.
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[387/0397] Verteidigung der reichspolitik. Kleons als milde und menschlich erscheinen zu lassen, die herrschaft der reaction unter den spartanischen harmosten und den oligarchischen dekarchien von 405—395. was man so findet, sagt der Panathenaikos mit klaren worten. aber so frei durfte die panhellenische rede 380 nicht mit der sprache herausgehn, deshalb erfahren bestimmt gemeinte und den hörern kenntliche aber ungenannte ankläger Athens all die eigentlich den Spartanern zugedachten angriffe, und es wird sogar mit einer feinen wendung zwischen den guten Lakonen und den bösen lakonisten unterschieden. daſs in der tat die zeit vom fall des Reiches bis zum königsfrieden hier geschildert werden soll, bestätigt sich in dem nächsten abschnitt, denn § 115 setzt unmittelbar so ein: “auch der königsfriede mit seiner auf dem papier garantirten autonomie verdient vor unserer herrschaft nicht den vorzug.” dazwischen steht, scheinbar als ein verlorner gedanke “was jene getan haben, sind dinge die absolut nicht wieder gut zu machen sind: unsere härten hätte ein volks- beschluſs auszugleichen genügt”. Isokrates schreibt mit einer weithin reichenden und ins einzelne verfolgbaren disposition; auch hier hält und stützt sich alles gegenseitig, nur dieser gedanke, den er selbst als einen allgemeinen (τοσοῦτον εἰπεῖν ἔχω καϑ̕ ἁπάντων), einen capitalsatz, ein κεφάλαιον 8) bezeichnet und an den schluſs stellt, fällt scheinbar heraus. das heiſst, er muſs eine besondere bedeutung haben. wahrlich nicht als geschichtliche wahrheit; denn die erschlagnen Melier machte kein psephisma lebendig noch die verkauften frei: so angesehen ist es eine törichte phrase. das hört sie auf zu sein, wenn wir sehen, wie ein psephisma, das des Aristoteles, wirklich alle die beschwerden, die man gegen die Reichsverfassung erhoben hatte, beseitigt: die autonomie in justiz und verwaltung wird zugestanden, die kleruchien und besatzungen werden verboten, die tribute, die nicht hier, aber im Panathenaikos be- rührt werden, als solche auch ausgeschlossen. gerade hier sieht man am deutlichsten, daſs Isokrates die tendenzen sehr wol kennt, die zwei jahre später den neuen bund begründeten, der allen befürchtungen der alten untertanen rechnung trug. auch der haſs gegen Sparta, der hier mehr oder minder versteckt ist, steht in der bundesurkunde offen aus- gesprochen: der publicist hatte die öffentliche meinung gut bearbeitet. 8) Καϑ̕ ἁπάντων εἰπεῖν sagt er hier, 114. κεφάλαιον τῶν εἰϱημένων steht am schlusse des Nikokles 62. dort ist es die zur gnome condensirte paraenese, hier das politische schlagwort. das muſste sich ein volksredner freilich erst noch etwas ummodeln, aber ἓν ψήφισμα πάντα τἀγκλήματα διαλύσεται war doch eine gute antwort auf alle bündnerischen bedenklichkeiten. 25*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/397>, abgerufen am 29.03.2024.