Die Erinyen sind im ersten teile des dramas scheusale, harpyien- artig, schweisshundartig, blutdürstig, gottverhasst, teuflisch. sie haben die aufgabe, die verbrecher die sich mit verwandtenblut befleckt haben zu hetzen, ihnen das blut auszusaugen und selbst in der unterwelt sie zu peinigen. sie sind unentbehrliche organe der göttlichen gerechtig- keit, aber sie verhalten sich zu den göttern wie der henker zum richter. der dichter hat sich nicht gescheut, die fratzen der rohen volksphantasie und der rohen kunst, die eigentlich schon überwunden waren, aufzu- nehmen, und so grass ist die erscheinung, dass er um sie zu mildern, den prolog vorgeschoben hat, damit die schilderung dem anblicke vor- aufgehend die gefühle des entsetzens und abscheus mildere. noch der desmios umnos gibt, wenn auch in jener grassheit, die das abscheuliche poetisch erträglich macht, nur diese höllischen Erinyen. das zweite grosse lied, dem jene mahnungen entstammen, greift schon tief in das eigentlich ethische über. "wer die gerechtigkeit aus freiem willen übt, kann nie unglücklich werden, und wird nimmer ganz zu grunde gehn", das ist eigentlich zu hoch für die blutgierigen rachegeister. dann folgt der process und die freisprechung des Orestes. gegen diese bäumt sich die höllische wut der Erinyen auf; sie äussert sich ganz in der weise die ihrer erscheinung entspricht. worüber sie sich beschweren, ist, dass geschehen sei, wovor sie gewarnt hatten, also der thron des rechtes umgestürzt, das deinon aus der weltordnung beseitigt. der zuschauer weiss das besser, vorausgesetzt dass er an Athena glaubt. das volks- gericht ist eingesetzt, als träger jenes deinon, jenes sebas für alle zeit. der conflict ist für ihn innerlich bereits gelöst, die rache ist von den höllendämonen auf den staat übergegangen, und die gesellschaftsordnung bleibt gesichert. es ist aber vom höchsten werte dafür, dass Athena dem Areopage dieselben sittlichen güter zu wahren ans herz legt wie die Eri- nyen, dass das lied und die rede so genau einander entsprechen. und nicht minder wertvoll ist es, dass diese rede dem urteilsspruche unmittel- bar vorhergeht, in dem die stimmen gleich sind und nur deshalb die mildere auffassung siegt. jene rede ist der schlussstein des dramas: sie zu verschieben, zerstört seinen aufbau, sie zu beseitigen ist die zerstörung des ganzen. aber für die handlung ist mit der überwindung der rache- daemonen das ende noch nicht erreicht. dazu müssen sie versöhnt werden und am Areopage ihre ruhestätte finden als die göttlichen träge- rinnen des sebas und des deinon, das ihn hinfort umschweben soll. sie waren bluträcherinnen, er wird blutrichter: aber das sebas ist nun viel höher und heiliger. die segenssprüche der Eumeniden gelten der
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Die rolle der Erinyen.
Die Erinyen sind im ersten teile des dramas scheusale, harpyien- artig, schweiſshundartig, blutdürstig, gottverhaſst, teuflisch. sie haben die aufgabe, die verbrecher die sich mit verwandtenblut befleckt haben zu hetzen, ihnen das blut auszusaugen und selbst in der unterwelt sie zu peinigen. sie sind unentbehrliche organe der göttlichen gerechtig- keit, aber sie verhalten sich zu den göttern wie der henker zum richter. der dichter hat sich nicht gescheut, die fratzen der rohen volksphantasie und der rohen kunst, die eigentlich schon überwunden waren, aufzu- nehmen, und so graſs ist die erscheinung, daſs er um sie zu mildern, den prolog vorgeschoben hat, damit die schilderung dem anblicke vor- aufgehend die gefühle des entsetzens und abscheus mildere. noch der δέσμιος ὕμνος gibt, wenn auch in jener graſsheit, die das abscheuliche poetisch erträglich macht, nur diese höllischen Erinyen. das zweite groſse lied, dem jene mahnungen entstammen, greift schon tief in das eigentlich ethische über. “wer die gerechtigkeit aus freiem willen übt, kann nie unglücklich werden, und wird nimmer ganz zu grunde gehn”, das ist eigentlich zu hoch für die blutgierigen rachegeister. dann folgt der proceſs und die freisprechung des Orestes. gegen diese bäumt sich die höllische wut der Erinyen auf; sie äuſsert sich ganz in der weise die ihrer erscheinung entspricht. worüber sie sich beschweren, ist, daſs geschehen sei, wovor sie gewarnt hatten, also der thron des rechtes umgestürzt, das δεινόν aus der weltordnung beseitigt. der zuschauer weiſs das besser, vorausgesetzt daſs er an Athena glaubt. das volks- gericht ist eingesetzt, als träger jenes δεινόν, jenes σέβας für alle zeit. der conflict ist für ihn innerlich bereits gelöst, die rache ist von den höllendämonen auf den staat übergegangen, und die gesellschaftsordnung bleibt gesichert. es ist aber vom höchsten werte dafür, daſs Athena dem Areopage dieselben sittlichen güter zu wahren ans herz legt wie die Eri- nyen, daſs das lied und die rede so genau einander entsprechen. und nicht minder wertvoll ist es, daſs diese rede dem urteilsspruche unmittel- bar vorhergeht, in dem die stimmen gleich sind und nur deshalb die mildere auffassung siegt. jene rede ist der schluſsstein des dramas: sie zu verschieben, zerstört seinen aufbau, sie zu beseitigen ist die zerstörung des ganzen. aber für die handlung ist mit der überwindung der rache- daemonen das ende noch nicht erreicht. dazu müssen sie versöhnt werden und am Areopage ihre ruhestätte finden als die göttlichen träge- rinnen des σέβας und des δεινόν, das ihn hinfort umschweben soll. sie waren bluträcherinnen, er wird blutrichter: aber das σέβας ist nun viel höher und heiliger. die segenssprüche der Eumeniden gelten der
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Die rolle der Erinyen.
Die Erinyen sind im ersten teile des dramas scheusale, harpyien-
artig, schweiſshundartig, blutdürstig, gottverhaſst, teuflisch. sie haben
die aufgabe, die verbrecher die sich mit verwandtenblut befleckt haben
zu hetzen, ihnen das blut auszusaugen und selbst in der unterwelt sie
zu peinigen. sie sind unentbehrliche organe der göttlichen gerechtig-
keit, aber sie verhalten sich zu den göttern wie der henker zum richter.
der dichter hat sich nicht gescheut, die fratzen der rohen volksphantasie
und der rohen kunst, die eigentlich schon überwunden waren, aufzu-
nehmen, und so graſs ist die erscheinung, daſs er um sie zu mildern,
den prolog vorgeschoben hat, damit die schilderung dem anblicke vor-
aufgehend die gefühle des entsetzens und abscheus mildere. noch der
δέσμιος ὕμνος gibt, wenn auch in jener graſsheit, die das abscheuliche
poetisch erträglich macht, nur diese höllischen Erinyen. das zweite
groſse lied, dem jene mahnungen entstammen, greift schon tief in das
eigentlich ethische über. “wer die gerechtigkeit aus freiem willen übt,
kann nie unglücklich werden, und wird nimmer ganz zu grunde gehn”,
das ist eigentlich zu hoch für die blutgierigen rachegeister. dann folgt
der proceſs und die freisprechung des Orestes. gegen diese bäumt sich die
höllische wut der Erinyen auf; sie äuſsert sich ganz in der weise die
ihrer erscheinung entspricht. worüber sie sich beschweren, ist, daſs
geschehen sei, wovor sie gewarnt hatten, also der thron des rechtes
umgestürzt, das δεινόν aus der weltordnung beseitigt. der zuschauer
weiſs das besser, vorausgesetzt daſs er an Athena glaubt. das volks-
gericht ist eingesetzt, als träger jenes δεινόν, jenes σέβας für alle zeit.
der conflict ist für ihn innerlich bereits gelöst, die rache ist von den
höllendämonen auf den staat übergegangen, und die gesellschaftsordnung
bleibt gesichert. es ist aber vom höchsten werte dafür, daſs Athena dem
Areopage dieselben sittlichen güter zu wahren ans herz legt wie die Eri-
nyen, daſs das lied und die rede so genau einander entsprechen. und
nicht minder wertvoll ist es, daſs diese rede dem urteilsspruche unmittel-
bar vorhergeht, in dem die stimmen gleich sind und nur deshalb die
mildere auffassung siegt. jene rede ist der schluſsstein des dramas: sie
zu verschieben, zerstört seinen aufbau, sie zu beseitigen ist die zerstörung
des ganzen. aber für die handlung ist mit der überwindung der rache-
daemonen das ende noch nicht erreicht. dazu müssen sie versöhnt
werden und am Areopage ihre ruhestätte finden als die göttlichen träge-
rinnen des σέβας und des δεινόν, das ihn hinfort umschweben soll.
sie waren bluträcherinnen, er wird blutrichter: aber das σέβας ist nun
viel höher und heiliger. die segenssprüche der Eumeniden gelten der
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/349>, abgerufen am 24.11.2024.
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