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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die locale tradition. Hellanikos.
sträuben sich die historiker dagegen, obwol die titel oroi in vielen ioni-
schen und aeolischen orten, iereiai Eras, Olumpionikai, Karneoinikai
ganz unzweideutig sind. dafür gefällt sich die quellenkunde darin, den
durch ein längst durchschautes misverständnis aufgebrachten namen
logographen gedankenlos weiter zu geben, oder mit dem hintergedanken,
dass es mit der überlieferung durch diese leute nicht viel mehr auf sich
hätte als mit den fabeln des logopoios Aesop. die dumme fabel von
den logographen ist so entstanden, dass die ungerechte und unfreund-
liche wendung des Thukydides gegen Herodotos zum glaubensartikel
gemacht und der name logograph auf die schriftsteller übertragen ward,
die Dionysios von Halikarnass, ohne sie zu kennen, vor Herodotos rückt.
logopoios oder logographoi heisst erzähler in prosa, und Hekataios
Herodot und Thukydides sind logographoi so gut wie wir. die ionische
schriftstellerei ist den litteraten der späteren hellenistischen zeit fast
durchweg vorattisch erschienen, weil sie einen archaischeren eindruck
machte als die attische kunstprosa. dafür liefert die hippokratische
sammlung den beweis noch jetzt. es ist also auf jene zeitansätze wenig
verlass: gerade Hellanikos lehrt das, den die modernen meistens als logo-
graphen mit an erster stelle führen, und der in wahrheit seine hohe
bedeutung gerade darin hat, dass er viel eher mit Ephoros und Ari-
stoteles verglichen werden muss als mit den epichorischen autoren oder
den beiden grossen logographoi Herodotos und Thukydides.

Hellanikos ist von diesen schon dadurch verschieden, dass er vieleHellanikos
bücher über viele gegenstände verfertigt, ferner dass er als der rechte
antipode Herodots an dem fremden materiale klebt, das er verarbeitet,
den chroniken seiner heimat, von Argos, von Athen, der siegerliste der
lakonischen Karneen. obwol er kein festes chronologisches system überall
durchgeführt hat, hat er doch nach synchronismen gestrebt und wirklich
die grundlage der zeitrechnung gegeben: wir sind nun wol ziemlich alle
der ansicht, dass Thukydides ihm die ansätze der boeotischen und hera-
klidischen wanderung entlehnt hat. mit ihm hat sich Ephoros denn
auch ganz besonders auseinander gesetzt. natürlich hat er auch volks-
tümliche novellistische erzählungen mitgeteilt, musste sehr viel die für
ihn bedeutendste geschichte, die wir heroensage nennen, wiedergeben
und dabei zur ausgleichung am gewaltsamsten verfahren, aber er war
mehr ein compilator als ein logopoios, wie er denn auch den Hero-
dotos beträchtlich ausgenutzt hat.10) Thukydides däuchte sich schrift-

10) Er verdankt ihm namentlich Skuthika, denn da sein fragment 173 Müll.
(Et. M. Suid. Zamolxis) aus Herod. IV 93 ist, so ist damit auch das urteil über die
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Die locale tradition. Hellanikos.
sträuben sich die historiker dagegen, obwol die titel ὧϱοι in vielen ioni-
schen und aeolischen orten, ἱέϱειαι Ἥϱας, Ὀλυμπιονῖκαι, Καϱνεοινῖκαι
ganz unzweideutig sind. dafür gefällt sich die quellenkunde darin, den
durch ein längst durchschautes misverständnis aufgebrachten namen
logographen gedankenlos weiter zu geben, oder mit dem hintergedanken,
daſs es mit der überlieferung durch diese leute nicht viel mehr auf sich
hätte als mit den fabeln des λογοποιός Aesop. die dumme fabel von
den logographen ist so entstanden, daſs die ungerechte und unfreund-
liche wendung des Thukydides gegen Herodotos zum glaubensartikel
gemacht und der name logograph auf die schriftsteller übertragen ward,
die Dionysios von Halikarnass, ohne sie zu kennen, vor Herodotos rückt.
λογοποιός oder λογογϱάφοι heiſst erzähler in prosa, und Hekataios
Herodot und Thukydides sind λογογϱάφοι so gut wie wir. die ionische
schriftstellerei ist den litteraten der späteren hellenistischen zeit fast
durchweg vorattisch erschienen, weil sie einen archaischeren eindruck
machte als die attische kunstprosa. dafür liefert die hippokratische
sammlung den beweis noch jetzt. es ist also auf jene zeitansätze wenig
verlaſs: gerade Hellanikos lehrt das, den die modernen meistens als logo-
graphen mit an erster stelle führen, und der in wahrheit seine hohe
bedeutung gerade darin hat, daſs er viel eher mit Ephoros und Ari-
stoteles verglichen werden muſs als mit den epichorischen autoren oder
den beiden groſsen λογογϱάφοι Herodotos und Thukydides.

Hellanikos ist von diesen schon dadurch verschieden, daſs er vieleHellanikos
bücher über viele gegenstände verfertigt, ferner daſs er als der rechte
antipode Herodots an dem fremden materiale klebt, das er verarbeitet,
den chroniken seiner heimat, von Argos, von Athen, der siegerliste der
lakonischen Karneen. obwol er kein festes chronologisches system überall
durchgeführt hat, hat er doch nach synchronismen gestrebt und wirklich
die grundlage der zeitrechnung gegeben: wir sind nun wol ziemlich alle
der ansicht, daſs Thukydides ihm die ansätze der boeotischen und hera-
klidischen wanderung entlehnt hat. mit ihm hat sich Ephoros denn
auch ganz besonders auseinander gesetzt. natürlich hat er auch volks-
tümliche novellistische erzählungen mitgeteilt, muſste sehr viel die für
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und dabei zur ausgleichung am gewaltsamsten verfahren, aber er war
mehr ein compilator als ein λογοποιός, wie er denn auch den Hero-
dotos beträchtlich ausgenutzt hat.10) Thukydides däuchte sich schrift-

10) Er verdankt ihm namentlich Σκυϑικά, denn da sein fragment 173 Müll.
(Et. M. Suid. Ζάμολξις) aus Herod. IV 93 ist, so ist damit auch das urteil über die
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/29>, abgerufen am 24.04.2024.