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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Verhältnis zu Herodotos. verhältnis zu Thukydides.
die kleisthenischen reformen bei Herodot steht, nimmt sich fast wie
der auszug eines fremden aus dem aristotelischen berichte aus; er hat
wirklich nur wiedergegeben, was er in Athen von leuten hörte, die
so sachverständig waren wie der exeget. geschichten dagegen, wie die
erste usurpation des Peisistratos mit dem greisen Solon als hauptacteur,
oder das gericht über die Alkmeoniden könnten zwar eben so gut bei
ihm stehn; er hat sie aber nicht gehört oder verschmäht: wir müssen
sie genau so beurteilen wie seine hübschen erzählungen aus dem sech-
sten jahrhundert. nur ein tor kann sich einbilden, Herodot hätte all dieses
material erschöpft gehabt, und was später aufgezeichnet wäre, müsste als
erfindung weggeworfen werden.

Das attentat Kylons erzählt Thukydides in seinem stile, aber soVerhältnis
zu Thu-
kydides.

dass der charakter der geschichten nicht wesentlich anders ist. und sein
excurs über Kekrops, Theseus und den sunoikismos (II 15) trägt in
allem den stempel derselben historischen methode sogar wie die be-
richte der atthidographen über die urzeit. dem sophisten lagen Anthe-
sterien und Diasien eigentlich fern: die exegeten lebten in ihnen.
deshalb habe ich schon früher diesen bericht für die chronik in an-
spruch genommen, obwol ich keinen chronisten der zeit kenne. exe-
gounto de tauta oi saphestata ta ton Athenaion eidotes, müsste er
antworten, wenn man ihn nach seinen gewährsmännern fragte. auch
hier kann ich keinerlei sinn darin finden, sich vor seiner historischen
methode zu verbeugen und eben dieselbe gering zu achten, wenn sie
Kleidemos übt.

Die wilden politischen kämpfe von 412--400 haben die vaterlän-
dische geschichte auch als waffe gebraucht; wir haben das im sechsten
capitel verfolgt. aber glücklicherweise hat das die chronik nicht beein-
flusst: erst Aristoteles leitet jenen schlammigen strom in ihr ruhiges
bette. auch die rhetorischen fictionen schwirrten in der luft: während
die Athener vor dem throne des Artaxerxes mit Thebanern und Spar-
tanern um die wette krochen, erfand zu hause die renommage mehr als die
sehnsucht nach einer grossen und bessern vergangenheit die fabeln vom
eide bei Plataiai und vom frieden des Kimon.40) aber auch sie herrsch-
ten viel mehr in der rhetorenschule als in den chroniken. den Klei-
demos beschenkten die Athener, aber sehr viel scheinen sie ihn nicht

40) Der name Kimons und die demütigung Persiens sind fabeln; den vertrag
des Kallias und seine urkunde deshalb zu verdächtigen, fällt wol keinem verstän-
digen mehr ein.
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 19

Verhältnis zu Herodotos. verhältnis zu Thukydides.
die kleisthenischen reformen bei Herodot steht, nimmt sich fast wie
der auszug eines fremden aus dem aristotelischen berichte aus; er hat
wirklich nur wiedergegeben, was er in Athen von leuten hörte, die
so sachverständig waren wie der exeget. geschichten dagegen, wie die
erste usurpation des Peisistratos mit dem greisen Solon als hauptacteur,
oder das gericht über die Alkmeoniden könnten zwar eben so gut bei
ihm stehn; er hat sie aber nicht gehört oder verschmäht: wir müssen
sie genau so beurteilen wie seine hübschen erzählungen aus dem sech-
sten jahrhundert. nur ein tor kann sich einbilden, Herodot hätte all dieses
material erschöpft gehabt, und was später aufgezeichnet wäre, müſste als
erfindung weggeworfen werden.

Das attentat Kylons erzählt Thukydides in seinem stile, aber soVerhältnis
zu Thu-
kydides.

daſs der charakter der geschichten nicht wesentlich anders ist. und sein
excurs über Kekrops, Theseus und den συνοικισμός (II 15) trägt in
allem den stempel derselben historischen methode sogar wie die be-
richte der atthidographen über die urzeit. dem sophisten lagen Anthe-
sterien und Diasien eigentlich fern: die exegeten lebten in ihnen.
deshalb habe ich schon früher diesen bericht für die chronik in an-
spruch genommen, obwol ich keinen chronisten der zeit kenne. ἐξη-
γοῦντο δὲ ταῦτα οἱ σαφέστατα τὰ τῶν Ἀϑηναίων εἰδότες, müsste er
antworten, wenn man ihn nach seinen gewährsmännern fragte. auch
hier kann ich keinerlei sinn darin finden, sich vor seiner historischen
methode zu verbeugen und eben dieselbe gering zu achten, wenn sie
Kleidemos übt.

Die wilden politischen kämpfe von 412—400 haben die vaterlän-
dische geschichte auch als waffe gebraucht; wir haben das im sechsten
capitel verfolgt. aber glücklicherweise hat das die chronik nicht beein-
fluſst: erst Aristoteles leitet jenen schlammigen strom in ihr ruhiges
bette. auch die rhetorischen fictionen schwirrten in der luft: während
die Athener vor dem throne des Artaxerxes mit Thebanern und Spar-
tanern um die wette krochen, erfand zu hause die renommage mehr als die
sehnsucht nach einer groſsen und bessern vergangenheit die fabeln vom
eide bei Plataiai und vom frieden des Kimon.40) aber auch sie herrsch-
ten viel mehr in der rhetorenschule als in den chroniken. den Klei-
demos beschenkten die Athener, aber sehr viel scheinen sie ihn nicht

40) Der name Kimons und die demütigung Persiens sind fabeln; den vertrag
des Kallias und seine urkunde deshalb zu verdächtigen, fällt wol keinem verstän-
digen mehr ein.
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[289/0303] Verhältnis zu Herodotos. verhältnis zu Thukydides. die kleisthenischen reformen bei Herodot steht, nimmt sich fast wie der auszug eines fremden aus dem aristotelischen berichte aus; er hat wirklich nur wiedergegeben, was er in Athen von leuten hörte, die so sachverständig waren wie der exeget. geschichten dagegen, wie die erste usurpation des Peisistratos mit dem greisen Solon als hauptacteur, oder das gericht über die Alkmeoniden könnten zwar eben so gut bei ihm stehn; er hat sie aber nicht gehört oder verschmäht: wir müssen sie genau so beurteilen wie seine hübschen erzählungen aus dem sech- sten jahrhundert. nur ein tor kann sich einbilden, Herodot hätte all dieses material erschöpft gehabt, und was später aufgezeichnet wäre, müſste als erfindung weggeworfen werden. Das attentat Kylons erzählt Thukydides in seinem stile, aber so daſs der charakter der geschichten nicht wesentlich anders ist. und sein excurs über Kekrops, Theseus und den συνοικισμός (II 15) trägt in allem den stempel derselben historischen methode sogar wie die be- richte der atthidographen über die urzeit. dem sophisten lagen Anthe- sterien und Diasien eigentlich fern: die exegeten lebten in ihnen. deshalb habe ich schon früher diesen bericht für die chronik in an- spruch genommen, obwol ich keinen chronisten der zeit kenne. ἐξη- γοῦντο δὲ ταῦτα οἱ σαφέστατα τὰ τῶν Ἀϑηναίων εἰδότες, müsste er antworten, wenn man ihn nach seinen gewährsmännern fragte. auch hier kann ich keinerlei sinn darin finden, sich vor seiner historischen methode zu verbeugen und eben dieselbe gering zu achten, wenn sie Kleidemos übt. Verhältnis zu Thu- kydides. Die wilden politischen kämpfe von 412—400 haben die vaterlän- dische geschichte auch als waffe gebraucht; wir haben das im sechsten capitel verfolgt. aber glücklicherweise hat das die chronik nicht beein- fluſst: erst Aristoteles leitet jenen schlammigen strom in ihr ruhiges bette. auch die rhetorischen fictionen schwirrten in der luft: während die Athener vor dem throne des Artaxerxes mit Thebanern und Spar- tanern um die wette krochen, erfand zu hause die renommage mehr als die sehnsucht nach einer groſsen und bessern vergangenheit die fabeln vom eide bei Plataiai und vom frieden des Kimon. 40) aber auch sie herrsch- ten viel mehr in der rhetorenschule als in den chroniken. den Klei- demos beschenkten die Athener, aber sehr viel scheinen sie ihn nicht 40) Der name Kimons und die demütigung Persiens sind fabeln; den vertrag des Kallias und seine urkunde deshalb zu verdächtigen, fällt wol keinem verstän- digen mehr ein. v. Wilamowitz, Aristoteles I. 19

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/303>, abgerufen am 24.11.2024.