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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 8. Die Atthis.
gettos die unfreiwillige musse seiner verbannung in Megara dazu be-
nutzte, die chronik mit entschiedener bevorzugung des politischen
teiles39) und in dem rhetorischen geschmacke der zeit zu schreiben,
frühestens in den vierziger jahren. so stand diese überlieferung, als
Aristoteles und Ephoros beide sie für ihre zwecke ausgenutzt haben.
dann ist noch Demon gekommen, bei welchem jedoch das interesse
weit über Athen sich ausdehnt und die aetiologische erfindung sich breit
macht; die politische tendenz tritt auffallend zurück. den würdigen
abschluss hat endlich der exeget Philochoros seiner vaterländischen chronik
gegeben, gelehrter als alle vorgänger, zuweilen selbst mit kritik, aber
immer mit jener edelen liebe zur heimat, ihren göttern und ihrer freiheit,
die er im leben und im sterben bewährt hat.

Verhältnis
zu Hero-
dotos.
Es konnte natürlich nicht ausbleiben, dass der geschichtliche inhalt
der chronik sich in vielem mit dem wissen von der eigenen vergangen-
heit deckte oder nahe berührte, das die unterrichteten Athener jeweilig
besassen. später musste die veröffentlichte chronik den lernbegierigen
selbst dieses wissen vermitteln. das erste gilt vom fünften jahrhundert.
was Herodotos über die Peisistratiden und Kleisthenes erzählt (I 59--64,
V 55--57. 62--66. 69--78) hat der Atthis ohne zweifel sehr nahe
gestanden: sonst hätte ja Aristoteles nicht so bequem beide zusammen
arbeiten können. was Aristoteles aussondert, sind meistens dinge, die
den stempel der tendenz an sich tragen, wie die bemäkelung des adels
der Gephyraeer und des Isagoras, oder es hängt mit sehersprüchen
zusammen, die Aristoteles von sich fern hält. dagegen z. b. was über

dass er auch die geschichte erzählt hätte. dass er Delos auch herangezogen hat
(Harp. Ekates nesos, Athen. 392d), weist auf das vierte jahrhundert, wo die insel
attisch war. der älteste benutzer von ihm ist, so viel ich weiss, Demetrios von
Skepsis (p. 33 Gaede). -- auch die pseudepigraphe chronik des eleusinischen sehers
Amelesagoras, die Antigonos von Karystos (parad. 12) citirt, mag noch in das vierte
jahrhundert reichen: was er aus ihr nimmt ist eine schöne ächtathenische sage.
der name aber kann nur durch spott aus Melesagoras gemacht sein. das ist ein
name wie Melesigenes Melesandros, gebildet wie Praxagoras Praxandros;
Melesippos ist vielleicht auch noch o ippon melei, vielleicht ist auch das ritter-
pferd unorganisch daran geflickt; Melesias, wol auch Meletos gehören als ab-
kürzungen dazu. aber ein name von amelein und agora ist ein onomatologisches
ungeheuer, muss also mit besonderer absicht fingirt sein.
39) Schon im zweiten buche war die kleisthenische verfassung behandelt; das
dritte reichte bis zum jahre des Eukleides. dass die buphonienlegende im vierten
stand, ist weit weniger wahrscheinlich, als dass im schol. Ar. Wolk. 985 d' in a'
zu ändern ist.

I. 8. Die Atthis.
gettos die unfreiwillige muſse seiner verbannung in Megara dazu be-
nutzte, die chronik mit entschiedener bevorzugung des politischen
teiles39) und in dem rhetorischen geschmacke der zeit zu schreiben,
frühestens in den vierziger jahren. so stand diese überlieferung, als
Aristoteles und Ephoros beide sie für ihre zwecke ausgenutzt haben.
dann ist noch Demon gekommen, bei welchem jedoch das interesse
weit über Athen sich ausdehnt und die aetiologische erfindung sich breit
macht; die politische tendenz tritt auffallend zurück. den würdigen
abschluſs hat endlich der exeget Philochoros seiner vaterländischen chronik
gegeben, gelehrter als alle vorgänger, zuweilen selbst mit kritik, aber
immer mit jener edelen liebe zur heimat, ihren göttern und ihrer freiheit,
die er im leben und im sterben bewährt hat.

Verhältnis
zu Hero-
dotos.
Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daſs der geschichtliche inhalt
der chronik sich in vielem mit dem wissen von der eigenen vergangen-
heit deckte oder nahe berührte, das die unterrichteten Athener jeweilig
besaſsen. später muſste die veröffentlichte chronik den lernbegierigen
selbst dieses wissen vermitteln. das erste gilt vom fünften jahrhundert.
was Herodotos über die Peisistratiden und Kleisthenes erzählt (I 59—64,
V 55—57. 62—66. 69—78) hat der Atthis ohne zweifel sehr nahe
gestanden: sonst hätte ja Aristoteles nicht so bequem beide zusammen
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den stempel der tendenz an sich tragen, wie die bemäkelung des adels
der Gephyraeer und des Isagoras, oder es hängt mit sehersprüchen
zusammen, die Aristoteles von sich fern hält. dagegen z. b. was über

daſs er auch die geschichte erzählt hätte. daſs er Delos auch herangezogen hat
(Harp. Ἑκάτης νῆσος, Athen. 392d), weist auf das vierte jahrhundert, wo die insel
attisch war. der älteste benutzer von ihm ist, so viel ich weiſs, Demetrios von
Skepsis (p. 33 Gaede). — auch die pseudepigraphe chronik des eleusinischen sehers
Amelesagoras, die Antigonos von Karystos (parad. 12) citirt, mag noch in das vierte
jahrhundert reichen: was er aus ihr nimmt ist eine schöne ächtathenische sage.
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Μελήσιππος ist vielleicht auch noch ᾧ ἵππων μέλει, vielleicht ist auch das ritter-
pferd unorganisch daran geflickt; Μελησίας, wol auch Μέλητος gehören als ab-
kürzungen dazu. aber ein name von ἀμελεῖν und ἀγοϱά ist ein onomatologisches
ungeheuer, muſs also mit besonderer absicht fingirt sein.
39) Schon im zweiten buche war die kleisthenische verfassung behandelt; das
dritte reichte bis zum jahre des Eukleides. daſs die buphonienlegende im vierten
stand, ist weit weniger wahrscheinlich, als daſs im schol. Ar. Wolk. 985 δ´ in α´
zu ändern ist.
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[288/0302] I. 8. Die Atthis. gettos die unfreiwillige muſse seiner verbannung in Megara dazu be- nutzte, die chronik mit entschiedener bevorzugung des politischen teiles 39) und in dem rhetorischen geschmacke der zeit zu schreiben, frühestens in den vierziger jahren. so stand diese überlieferung, als Aristoteles und Ephoros beide sie für ihre zwecke ausgenutzt haben. dann ist noch Demon gekommen, bei welchem jedoch das interesse weit über Athen sich ausdehnt und die aetiologische erfindung sich breit macht; die politische tendenz tritt auffallend zurück. den würdigen abschluſs hat endlich der exeget Philochoros seiner vaterländischen chronik gegeben, gelehrter als alle vorgänger, zuweilen selbst mit kritik, aber immer mit jener edelen liebe zur heimat, ihren göttern und ihrer freiheit, die er im leben und im sterben bewährt hat. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daſs der geschichtliche inhalt der chronik sich in vielem mit dem wissen von der eigenen vergangen- heit deckte oder nahe berührte, das die unterrichteten Athener jeweilig besaſsen. später muſste die veröffentlichte chronik den lernbegierigen selbst dieses wissen vermitteln. das erste gilt vom fünften jahrhundert. was Herodotos über die Peisistratiden und Kleisthenes erzählt (I 59—64, V 55—57. 62—66. 69—78) hat der Atthis ohne zweifel sehr nahe gestanden: sonst hätte ja Aristoteles nicht so bequem beide zusammen arbeiten können. was Aristoteles aussondert, sind meistens dinge, die den stempel der tendenz an sich tragen, wie die bemäkelung des adels der Gephyraeer und des Isagoras, oder es hängt mit sehersprüchen zusammen, die Aristoteles von sich fern hält. dagegen z. b. was über 38) Verhältnis zu Hero- dotos. 39) Schon im zweiten buche war die kleisthenische verfassung behandelt; das dritte reichte bis zum jahre des Eukleides. daſs die buphonienlegende im vierten stand, ist weit weniger wahrscheinlich, als daſs im schol. Ar. Wolk. 985 δ´ in α´ zu ändern ist. 38) daſs er auch die geschichte erzählt hätte. daſs er Delos auch herangezogen hat (Harp. Ἑκάτης νῆσος, Athen. 392d), weist auf das vierte jahrhundert, wo die insel attisch war. der älteste benutzer von ihm ist, so viel ich weiſs, Demetrios von Skepsis (p. 33 Gaede). — auch die pseudepigraphe chronik des eleusinischen sehers Amelesagoras, die Antigonos von Karystos (parad. 12) citirt, mag noch in das vierte jahrhundert reichen: was er aus ihr nimmt ist eine schöne ächtathenische sage. der name aber kann nur durch spott aus Μελησαγόϱας gemacht sein. das ist ein name wie Μελησιγένης Μελήσανδϱος, gebildet wie Πϱαξαγόϱας Πϱάξανδϱος; Μελήσιππος ist vielleicht auch noch ᾧ ἵππων μέλει, vielleicht ist auch das ritter- pferd unorganisch daran geflickt; Μελησίας, wol auch Μέλητος gehören als ab- kürzungen dazu. aber ein name von ἀμελεῖν und ἀγοϱά ist ein onomatologisches ungeheuer, muſs also mit besonderer absicht fingirt sein.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/302>, abgerufen am 17.05.2024.