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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 8. Die Atthis.
überlegt, mag noch so viel auf die litteraturgattung schieben, mag auch
die allerdings bemerkbare differenz der einzelnen schriftsteller noch so
hoch veranschlagen: wodurch hat sich denn der bestimmte charakter
dieser litteraturgattung anders gebildet, als indem einer ein schema für
sie schuf? von den bekannten atthidographen hat keiner dazu das zeug
gehabt: wo steckt er also?

Der exeget.Gerade diese ganz eben so sehr die erläuterung der patria wie
die heimische geschichte verfolgende tendenz der chronik weist uns,
wie ich meine, dahin, wo wir ihre entstehung zu suchen haben. dass
sie officiell war, in dem sinne, dass ein beamter den auftrag hatte, sie
zu führen, ist undenkbar: daran wäre das gedächtnis nicht verloren.
unwillkürlich richtet man seinen blick nach den heiligtümern, da doch
der Zeus von Olympia, die Hera von Argos, der Apollon Karneios von
Sikyon und Sparta die chronisten des Peloponneses sind. aber in Athen
wohnt kein solcher gott. die göttin ist zwar mit dem staate identisch,
aber ihr heiligtum ist eben deshalb in den händen staatlicher beamten.
die göttermutter hat später das archiv erhalten, aber sie hat überhaupt
keinen einfluss. wer wacht in Athen über den patria, wo stecken
die pontifices Athens? das sind die exegeten, insbesondere die exegetai
ex Eupatridon, denn die eumolpidischen fallen hier sicher fort, die
pythischen haben, seit der directe verkehr mit dem gotte regel war,
wenig bedeutet. ich weiss nicht, ob ich U. Köhler unrecht tue, wenn
ich auch bei ihm (Herm. 26, 45) den gedanken voraussetze, dass die
exegesis ton patrion zu der aufzeichnung und erläuterung der patria
geführt hat und so zu der Atthis, aber ich wünschte sehr, dass meine
freude mich nicht getäuscht hätte, und ich auf einige übereinstimmung mit
meiner ansicht daraus schliessen dürfte, dass er die tatsache betont, dass
die chronisten Kleidemos Antikleides Philochoros exegeten gewesen sind.
ich füge hinzu, dass es sogar auch Androtion vielleicht gewesen ist 32),
dass Demon über opfer geschrieben hat, Melanthios über mysterien. der
exeget, Lampon der genosse des Perikles, um einen bekannten namen
zu nennen, hat zunächst die fragen zu beantworten, die ihm die ge-
wissensangst des einzelnen oder des volkes stellt, also z. b. über pro-

32) Schol. Hesiod. Erg. 888 (aus Plutarch) os Philokhoros legei kRi Androtion
(so Enthoven, de Ione Eur. these, amphoteros codd.), exegetai ton patrion andres.
die conjectur ist palaeographisch ansprechend, und Plutarch wenigstens möchte ich
eine misbräuchliche anwendung des für Philochoros notorisch im eigentlichen sinne
zutreffenden wortes nicht zutraun, die ich für Aristides pro IV vir. 276 zugeben
muss. aber freilich, sicherheit gewährt dieses zeugnis nicht.

I. 8. Die Atthis.
überlegt, mag noch so viel auf die litteraturgattung schieben, mag auch
die allerdings bemerkbare differenz der einzelnen schriftsteller noch so
hoch veranschlagen: wodurch hat sich denn der bestimmte charakter
dieser litteraturgattung anders gebildet, als indem einer ein schema für
sie schuf? von den bekannten atthidographen hat keiner dazu das zeug
gehabt: wo steckt er also?

Der exeget.Gerade diese ganz eben so sehr die erläuterung der πάτϱια wie
die heimische geschichte verfolgende tendenz der chronik weist uns,
wie ich meine, dahin, wo wir ihre entstehung zu suchen haben. daſs
sie officiell war, in dem sinne, daſs ein beamter den auftrag hatte, sie
zu führen, ist undenkbar: daran wäre das gedächtnis nicht verloren.
unwillkürlich richtet man seinen blick nach den heiligtümern, da doch
der Zeus von Olympia, die Hera von Argos, der Apollon Karneios von
Sikyon und Sparta die chronisten des Peloponneses sind. aber in Athen
wohnt kein solcher gott. die göttin ist zwar mit dem staate identisch,
aber ihr heiligtum ist eben deshalb in den händen staatlicher beamten.
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die chronisten Kleidemos Antikleides Philochoros exegeten gewesen sind.
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daſs Demon über opfer geschrieben hat, Melanthios über mysterien. der
exeget, Lampon der genosse des Perikles, um einen bekannten namen
zu nennen, hat zunächst die fragen zu beantworten, die ihm die ge-
wissensangst des einzelnen oder des volkes stellt, also z. b. über pro-

32) Schol. Hesiod. Erg. 888 (aus Plutarch) ὡς Φιλόχοϱος λέγει κΡὶ Ἀνδϱοτίων
(so Enthoven, de Ione Eur. these, ἀμφότεϱος codd.), ἐξηγηταὶ τῶν πατϱίων ἄνδϱες.
die conjectur ist palaeographisch ansprechend, und Plutarch wenigstens möchte ich
eine misbräuchliche anwendung des für Philochoros notorisch im eigentlichen sinne
zutreffenden wortes nicht zutraun, die ich für Aristides pro IV vir. 276 zugeben
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[280/0294] I. 8. Die Atthis. überlegt, mag noch so viel auf die litteraturgattung schieben, mag auch die allerdings bemerkbare differenz der einzelnen schriftsteller noch so hoch veranschlagen: wodurch hat sich denn der bestimmte charakter dieser litteraturgattung anders gebildet, als indem einer ein schema für sie schuf? von den bekannten atthidographen hat keiner dazu das zeug gehabt: wo steckt er also? Gerade diese ganz eben so sehr die erläuterung der πάτϱια wie die heimische geschichte verfolgende tendenz der chronik weist uns, wie ich meine, dahin, wo wir ihre entstehung zu suchen haben. daſs sie officiell war, in dem sinne, daſs ein beamter den auftrag hatte, sie zu führen, ist undenkbar: daran wäre das gedächtnis nicht verloren. unwillkürlich richtet man seinen blick nach den heiligtümern, da doch der Zeus von Olympia, die Hera von Argos, der Apollon Karneios von Sikyon und Sparta die chronisten des Peloponneses sind. aber in Athen wohnt kein solcher gott. die göttin ist zwar mit dem staate identisch, aber ihr heiligtum ist eben deshalb in den händen staatlicher beamten. die göttermutter hat später das archiv erhalten, aber sie hat überhaupt keinen einfluſs. wer wacht in Athen über den πάτϱια, wo stecken die pontifices Athens? das sind die exegeten, insbesondere die ἐξηγηταὶ ἐξ Εὐπατϱιδῶν, denn die eumolpidischen fallen hier sicher fort, die pythischen haben, seit der directe verkehr mit dem gotte regel war, wenig bedeutet. ich weiſs nicht, ob ich U. Köhler unrecht tue, wenn ich auch bei ihm (Herm. 26, 45) den gedanken voraussetze, daſs die ἐξήγησις τῶν πατϱίων zu der aufzeichnung und erläuterung der πάτϱια geführt hat und so zu der Atthis, aber ich wünschte sehr, daſs meine freude mich nicht getäuscht hätte, und ich auf einige übereinstimmung mit meiner ansicht daraus schlieſsen dürfte, daſs er die tatsache betont, daſs die chronisten Kleidemos Antikleides Philochoros exegeten gewesen sind. ich füge hinzu, daſs es sogar auch Androtion vielleicht gewesen ist 32), daſs Demon über opfer geschrieben hat, Melanthios über mysterien. der exeget, Lampon der genosse des Perikles, um einen bekannten namen zu nennen, hat zunächst die fragen zu beantworten, die ihm die ge- wissensangst des einzelnen oder des volkes stellt, also z. b. über pro- Der exeget. 32) Schol. Hesiod. Erg. 888 (aus Plutarch) ὡς Φιλόχοϱος λέγει κΡὶ Ἀνδϱοτίων (so Enthoven, de Ione Eur. these, ἀμφότεϱος codd.), ἐξηγηταὶ τῶν πατϱίων ἄνδϱες. die conjectur ist palaeographisch ansprechend, und Plutarch wenigstens möchte ich eine misbräuchliche anwendung des für Philochoros notorisch im eigentlichen sinne zutreffenden wortes nicht zutraun, die ich für Aristides pro IV vir. 276 zugeben muſs. aber freilich, sicherheit gewährt dieses zeugnis nicht.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/294>, abgerufen am 04.05.2024.