Denken, zum Selbstdenken berufen und wenn man die Menge so gedankenlos in den Tag leben sieht, so schreibe man dies eben ihrer Erziehung und dem bleiernen Druck der Verhältnisse zu, der auf ihr lastet; wird dieser Druck aufgehoben, so fan¬ gen auch die Federn ihres Verstandes an zu spie¬ len und die Geburtstunde der, freilich immer rela¬ tiven, Selbstständigkeit hat für sie geschlagen. Al¬ lein auch der gebildetste Mensch, geschweige denn die Masse, ist nicht immer für jene Art der Be¬ arbeitung seiner Begriffe geschaffen, welche im heutigen Sinn und unter uns Deutschen vorzugs¬ weise die philosophische heißt und die in ihrer letz¬ ten scharfen Bestimmung auch nur als Laie zu ahnen, man einigermaßen von Natur begünstigt sein muß, die also mit einem gelegentlichen Wort nicht abgethan werden kann. Das Philosophiren in diesem strengen Sinn, mag es nun für den Philosophirenden ein Glück, oder Unglück sein, mag es ein Zustand der Gesundheit oder Krank¬ heit des Geistes genannt werden müssen -- und darüber lauten bedeutende Stimmen sehr verschie¬ den -- kann und darf nur als eine freie Kunst getrieben werden, zu der Niemand gezwungen ist, ja, zu der Niemand aufgefordert werden soll, noch weniger, von dessen Resultaten er zu Glück stadt oder Schleswig endliche Rechenschaft zu lie¬
Denken, zum Selbſtdenken berufen und wenn man die Menge ſo gedankenlos in den Tag leben ſieht, ſo ſchreibe man dies eben ihrer Erziehung und dem bleiernen Druck der Verhaͤltniſſe zu, der auf ihr laſtet; wird dieſer Druck aufgehoben, ſo fan¬ gen auch die Federn ihres Verſtandes an zu ſpie¬ len und die Geburtſtunde der, freilich immer rela¬ tiven, Selbſtſtaͤndigkeit hat fuͤr ſie geſchlagen. Al¬ lein auch der gebildetſte Menſch, geſchweige denn die Maſſe, iſt nicht immer fuͤr jene Art der Be¬ arbeitung ſeiner Begriffe geſchaffen, welche im heutigen Sinn und unter uns Deutſchen vorzugs¬ weiſe die philoſophiſche heißt und die in ihrer letz¬ ten ſcharfen Beſtimmung auch nur als Laie zu ahnen, man einigermaßen von Natur beguͤnſtigt ſein muß, die alſo mit einem gelegentlichen Wort nicht abgethan werden kann. Das Philoſophiren in dieſem ſtrengen Sinn, mag es nun fuͤr den Philoſophirenden ein Gluͤck, oder Ungluͤck ſein, mag es ein Zuſtand der Geſundheit oder Krank¬ heit des Geiſtes genannt werden muͤſſen — und daruͤber lauten bedeutende Stimmen ſehr verſchie¬ den — kann und darf nur als eine freie Kunſt getrieben werden, zu der Niemand gezwungen iſt, ja, zu der Niemand aufgefordert werden ſoll, noch weniger, von deſſen Reſultaten er zu Gluͤck ſtadt oder Schleswig endliche Rechenſchaft zu lie¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0072"n="58"/>
Denken, zum Selbſtdenken berufen und wenn man<lb/>
die Menge ſo gedankenlos in den Tag leben ſieht,<lb/>ſo ſchreibe man dies eben ihrer Erziehung und<lb/>
dem bleiernen Druck der Verhaͤltniſſe zu, der auf<lb/>
ihr laſtet; wird dieſer Druck aufgehoben, ſo fan¬<lb/>
gen auch die Federn ihres Verſtandes an zu ſpie¬<lb/>
len und die Geburtſtunde der, freilich immer rela¬<lb/>
tiven, Selbſtſtaͤndigkeit hat fuͤr ſie geſchlagen. Al¬<lb/>
lein auch der gebildetſte Menſch, geſchweige denn<lb/>
die Maſſe, iſt nicht immer fuͤr jene Art der Be¬<lb/>
arbeitung ſeiner Begriffe geſchaffen, welche im<lb/>
heutigen Sinn und unter uns Deutſchen vorzugs¬<lb/>
weiſe die philoſophiſche heißt und die in ihrer letz¬<lb/>
ten ſcharfen Beſtimmung auch nur als Laie zu<lb/>
ahnen, man einigermaßen von Natur beguͤnſtigt<lb/>ſein muß, die alſo mit einem gelegentlichen Wort<lb/>
nicht abgethan werden kann. Das Philoſophiren<lb/>
in dieſem ſtrengen Sinn, mag es nun fuͤr den<lb/>
Philoſophirenden ein Gluͤck, oder Ungluͤck ſein,<lb/>
mag es ein Zuſtand der Geſundheit oder Krank¬<lb/>
heit des Geiſtes genannt werden muͤſſen — und<lb/>
daruͤber lauten bedeutende Stimmen ſehr verſchie¬<lb/>
den — kann und darf nur als eine freie Kunſt<lb/>
getrieben werden, zu der Niemand gezwungen iſt,<lb/>
ja, zu der Niemand aufgefordert werden ſoll,<lb/>
noch weniger, von deſſen Reſultaten er zu Gluͤck<lb/>ſtadt oder Schleswig endliche Rechenſchaft zu lie¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[58/0072]
Denken, zum Selbſtdenken berufen und wenn man
die Menge ſo gedankenlos in den Tag leben ſieht,
ſo ſchreibe man dies eben ihrer Erziehung und
dem bleiernen Druck der Verhaͤltniſſe zu, der auf
ihr laſtet; wird dieſer Druck aufgehoben, ſo fan¬
gen auch die Federn ihres Verſtandes an zu ſpie¬
len und die Geburtſtunde der, freilich immer rela¬
tiven, Selbſtſtaͤndigkeit hat fuͤr ſie geſchlagen. Al¬
lein auch der gebildetſte Menſch, geſchweige denn
die Maſſe, iſt nicht immer fuͤr jene Art der Be¬
arbeitung ſeiner Begriffe geſchaffen, welche im
heutigen Sinn und unter uns Deutſchen vorzugs¬
weiſe die philoſophiſche heißt und die in ihrer letz¬
ten ſcharfen Beſtimmung auch nur als Laie zu
ahnen, man einigermaßen von Natur beguͤnſtigt
ſein muß, die alſo mit einem gelegentlichen Wort
nicht abgethan werden kann. Das Philoſophiren
in dieſem ſtrengen Sinn, mag es nun fuͤr den
Philoſophirenden ein Gluͤck, oder Ungluͤck ſein,
mag es ein Zuſtand der Geſundheit oder Krank¬
heit des Geiſtes genannt werden muͤſſen — und
daruͤber lauten bedeutende Stimmen ſehr verſchie¬
den — kann und darf nur als eine freie Kunſt
getrieben werden, zu der Niemand gezwungen iſt,
ja, zu der Niemand aufgefordert werden ſoll,
noch weniger, von deſſen Reſultaten er zu Gluͤck
ſtadt oder Schleswig endliche Rechenſchaft zu lie¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/72>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.