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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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Seele des Musikers athmet, so athmet die Seele
des Helden in der That. Den wahren Geschicht¬
schreiber muß das Spiel der Harmonien in unmit¬
telbarer Gegenwärtigkeit ergreifen, im historischen
Konzertsaal, unter den schwellenden Tönen, den
ringenden, jauchzenden Menschen, da fesselt er mit
unnachahmlichem Zauber das Unsichtbare an das
Sichtbare, den Geist an die Erscheinung, den
Sinn an die That. Geschichtliche Wahrheit --
mich überfällt ein Grauen, denke ich an den Tod¬
tentanz, den man Geschichte nennt -- geschicht¬
liche Wahrheit, ist sie nicht das Leben, selbst ge¬
lebt und angeschaut von einem Genius, schwebend
auf den Flügeln seiner Zeit, in ihre Ströme seine
Feder senkend, wie ein begeisterter Apostel nieder¬
schreibend, was der zur That gewordene, der
Fleisch gewordene Geist der Zeiten ihm diktirt?
Wer schrieb Geschichte, die solches Namens wür¬
dig war? Sind es nicht Männer, die gleich
Thukydides, Macchiavelli, Segür, der Zeit im
Schooße saßen? Geschichte wird einmal nicht ge¬
schrieben, sie schreibt sich selber, sie wählt einen
ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Ver¬
zeichnung ihrer großen Thatengedanken. Wir ha¬
ben keine Geschichte Roms, Griechenlands, Ita¬
liens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeschichte im

Seele des Muſikers athmet, ſo athmet die Seele
des Helden in der That. Den wahren Geſchicht¬
ſchreiber muß das Spiel der Harmonien in unmit¬
telbarer Gegenwaͤrtigkeit ergreifen, im hiſtoriſchen
Konzertſaal, unter den ſchwellenden Toͤnen, den
ringenden, jauchzenden Menſchen, da feſſelt er mit
unnachahmlichem Zauber das Unſichtbare an das
Sichtbare, den Geiſt an die Erſcheinung, den
Sinn an die That. Geſchichtliche Wahrheit —
mich uͤberfaͤllt ein Grauen, denke ich an den Tod¬
tentanz, den man Geſchichte nennt — geſchicht¬
liche Wahrheit, iſt ſie nicht das Leben, ſelbſt ge¬
lebt und angeſchaut von einem Genius, ſchwebend
auf den Fluͤgeln ſeiner Zeit, in ihre Stroͤme ſeine
Feder ſenkend, wie ein begeiſterter Apoſtel nieder¬
ſchreibend, was der zur That gewordene, der
Fleiſch gewordene Geiſt der Zeiten ihm diktirt?
Wer ſchrieb Geſchichte, die ſolches Namens wuͤr¬
dig war? Sind es nicht Maͤnner, die gleich
Thukydides, Macchiavelli, Seguͤr, der Zeit im
Schooße ſaßen? Geſchichte wird einmal nicht ge¬
ſchrieben, ſie ſchreibt ſich ſelber, ſie waͤhlt einen
ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Ver¬
zeichnung ihrer großen Thatengedanken. Wir ha¬
ben keine Geſchichte Roms, Griechenlands, Ita¬
liens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeſchichte im

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[45/0059] Seele des Muſikers athmet, ſo athmet die Seele des Helden in der That. Den wahren Geſchicht¬ ſchreiber muß das Spiel der Harmonien in unmit¬ telbarer Gegenwaͤrtigkeit ergreifen, im hiſtoriſchen Konzertſaal, unter den ſchwellenden Toͤnen, den ringenden, jauchzenden Menſchen, da feſſelt er mit unnachahmlichem Zauber das Unſichtbare an das Sichtbare, den Geiſt an die Erſcheinung, den Sinn an die That. Geſchichtliche Wahrheit — mich uͤberfaͤllt ein Grauen, denke ich an den Tod¬ tentanz, den man Geſchichte nennt — geſchicht¬ liche Wahrheit, iſt ſie nicht das Leben, ſelbſt ge¬ lebt und angeſchaut von einem Genius, ſchwebend auf den Fluͤgeln ſeiner Zeit, in ihre Stroͤme ſeine Feder ſenkend, wie ein begeiſterter Apoſtel nieder¬ ſchreibend, was der zur That gewordene, der Fleiſch gewordene Geiſt der Zeiten ihm diktirt? Wer ſchrieb Geſchichte, die ſolches Namens wuͤr¬ dig war? Sind es nicht Maͤnner, die gleich Thukydides, Macchiavelli, Seguͤr, der Zeit im Schooße ſaßen? Geſchichte wird einmal nicht ge¬ ſchrieben, ſie ſchreibt ſich ſelber, ſie waͤhlt einen ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Ver¬ zeichnung ihrer großen Thatengedanken. Wir ha¬ ben keine Geſchichte Roms, Griechenlands, Ita¬ liens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeſchichte im

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/59>, abgerufen am 24.11.2024.