sche Poesie aber dem Dichter überläßt. Allein die kritische Wahrheit, hat an sich gar keinen Werth, sondern erhält ihn nur in Verbindung mit poetischer; nicht irgend eine äußere Thatsache wol¬ len wir wissen, sondern ihren Zusammenhang mit dem Leben. Was will man von der Geschichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche sie darstellt, und muß nicht also unsere jetzige kri¬ tische Historie wieder, wenn auch auf einem an¬ dern Wege, eins werden mit der Poesie, mit dem Epos der Völker? Denken Sie an das beste Ge¬ schichtswerk der neuern Zeit, an unsers Niebuhr's römische Geschichte. Ist nicht eine contradictio in adjecto in diesem Titel, kann jemals durch ge¬ lehrte Forschungen etwas, was einmal nicht Ge¬ schichte war und ist, zur Geschichte erhoben wer¬ den? Lassen Sie uns doch einen Augenblick be¬ denken, was es heißt: Roms Geschichte soll vor unsern Augen entstehen, sich fortspinnen, mannig¬ fach verknüpfen, in immer größern Radien anschie¬ ßen bis zur Vollendung des äußersten und zur ge¬ waltsamen Durchlöcherung und Zerfetzung des gan¬ zen Weltspinnengewebes durch die furchtbaren Stürme des Nordens.
Die ersten Fäden aller Völkergeschichten ver¬ laufen sich in den Morgenhimmel des Mythus, Götter spinnen sie aus ihrem Busen, sie fliegen
ſche Poeſie aber dem Dichter uͤberlaͤßt. Allein die kritiſche Wahrheit, hat an ſich gar keinen Werth, ſondern erhaͤlt ihn nur in Verbindung mit poetiſcher; nicht irgend eine aͤußere Thatſache wol¬ len wir wiſſen, ſondern ihren Zuſammenhang mit dem Leben. Was will man von der Geſchichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche ſie darſtellt, und muß nicht alſo unſere jetzige kri¬ tiſche Hiſtorie wieder, wenn auch auf einem an¬ dern Wege, eins werden mit der Poeſie, mit dem Epos der Voͤlker? Denken Sie an das beſte Ge¬ ſchichtswerk der neuern Zeit, an unſers Niebuhr's roͤmiſche Geſchichte. Iſt nicht eine contradictio in adjecto in dieſem Titel, kann jemals durch ge¬ lehrte Forſchungen etwas, was einmal nicht Ge¬ ſchichte war und iſt, zur Geſchichte erhoben wer¬ den? Laſſen Sie uns doch einen Augenblick be¬ denken, was es heißt: Roms Geſchichte ſoll vor unſern Augen entſtehen, ſich fortſpinnen, mannig¬ fach verknuͤpfen, in immer groͤßern Radien anſchie¬ ßen bis zur Vollendung des aͤußerſten und zur ge¬ waltſamen Durchloͤcherung und Zerfetzung des gan¬ zen Weltſpinnengewebes durch die furchtbaren Stuͤrme des Nordens.
Die erſten Faͤden aller Voͤlkergeſchichten ver¬ laufen ſich in den Morgenhimmel des Mythus, Goͤtter ſpinnen ſie aus ihrem Buſen, ſie fliegen
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ſche Poeſie aber dem Dichter uͤberlaͤßt. Allein
die kritiſche Wahrheit, hat an ſich gar keinen
Werth, ſondern erhaͤlt ihn nur in Verbindung mit
poetiſcher; nicht irgend eine aͤußere Thatſache wol¬
len wir wiſſen, ſondern ihren Zuſammenhang mit
dem Leben. Was will man von der Geſchichte
anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche
ſie darſtellt, und muß nicht alſo unſere jetzige kri¬
tiſche Hiſtorie wieder, wenn auch auf einem an¬
dern Wege, eins werden mit der Poeſie, mit dem
Epos der Voͤlker? Denken Sie an das beſte Ge¬
ſchichtswerk der neuern Zeit, an unſers Niebuhr's
roͤmiſche Geſchichte. Iſt nicht eine contradictio in
adjecto in dieſem Titel, kann jemals durch ge¬
lehrte Forſchungen etwas, was einmal nicht Ge¬
ſchichte war und iſt, zur Geſchichte erhoben wer¬
den? Laſſen Sie uns doch einen Augenblick be¬
denken, was es heißt: Roms Geſchichte ſoll vor
unſern Augen entſtehen, ſich fortſpinnen, mannig¬
fach verknuͤpfen, in immer groͤßern Radien anſchie¬
ßen bis zur Vollendung des aͤußerſten und zur ge¬
waltſamen Durchloͤcherung und Zerfetzung des gan¬
zen Weltſpinnengewebes durch die furchtbaren
Stuͤrme des Nordens.
Die erſten Faͤden aller Voͤlkergeſchichten ver¬
laufen ſich in den Morgenhimmel des Mythus,
Goͤtter ſpinnen ſie aus ihrem Buſen, ſie fliegen
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/54>, abgerufen am 27.11.2024.
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