zuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzi¬ pirt von dem und dem namhaften Verfasser, ist seinem Charakter nach das grade Widerspiel vom alten echten Epos, und die Strafe, sich an die¬ sem versündigt zu haben, folgt den Verfassern ge¬ wöhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr will¬ kührliches Machwerk keine Seele erwärmt und be¬ geistert, sondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewisse Menschen bemüht sind, sich, zu Ehren der epischen, vaterländischen Muse, darüber in Selbsttäuschung zu erhalten. Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder patriotische Deutsche den Namen des Klopstockischen Messias schimpfshalber mit einiger Entzückung aus¬ sprechen, mochte er den Messias gelesen haben oder nicht; gegenwärtig, wo vielleicht kein Mensch in Deutschland lebt, der sich der vollständigen Durch¬ lesung der Messiade berühmen kann, ist es er¬ laubt, bei aller Achtung für die riesenhafte Arbeit eines abstrakten Dichtergenius, sich dessen nicht zu schämen und jeder Anmuthung der Art durch schla¬ gende Gründe zu begegnen. Es ist ausgemacht, daß jedes epische Gedicht neuerer Zeit, je länger es gerieth, desto langweiliger gerathen ist, und daß nur die besondere romantisch-katholische Natur der Comoedia divina des Ariost's und des befreiten Jerusalems von Tasso, diesen epischen Gedichten
zuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzi¬ pirt von dem und dem namhaften Verfaſſer, iſt ſeinem Charakter nach das grade Widerſpiel vom alten echten Epos, und die Strafe, ſich an die¬ ſem verſuͤndigt zu haben, folgt den Verfaſſern ge¬ woͤhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr will¬ kuͤhrliches Machwerk keine Seele erwaͤrmt und be¬ geiſtert, ſondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewiſſe Menſchen bemuͤht ſind, ſich, zu Ehren der epiſchen, vaterlaͤndiſchen Muſe, daruͤber in Selbſttaͤuſchung zu erhalten. Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder patriotiſche Deutſche den Namen des Klopſtockiſchen Meſſias ſchimpfshalber mit einiger Entzuͤckung aus¬ ſprechen, mochte er den Meſſias geleſen haben oder nicht; gegenwaͤrtig, wo vielleicht kein Menſch in Deutſchland lebt, der ſich der vollſtaͤndigen Durch¬ leſung der Meſſiade beruͤhmen kann, iſt es er¬ laubt, bei aller Achtung fuͤr die rieſenhafte Arbeit eines abſtrakten Dichtergenius, ſich deſſen nicht zu ſchaͤmen und jeder Anmuthung der Art durch ſchla¬ gende Gruͤnde zu begegnen. Es iſt ausgemacht, daß jedes epiſche Gedicht neuerer Zeit, je laͤnger es gerieth, deſto langweiliger gerathen iſt, und daß nur die beſondere romantiſch-katholiſche Natur der Comoedia divina des Arioſt's und des befreiten Jeruſalems von Taſſo, dieſen epiſchen Gedichten
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zuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzi¬
pirt von dem und dem namhaften Verfaſſer, iſt
ſeinem Charakter nach das grade Widerſpiel vom
alten echten Epos, und die Strafe, ſich an die¬
ſem verſuͤndigt zu haben, folgt den Verfaſſern ge¬
woͤhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr will¬
kuͤhrliches Machwerk keine Seele erwaͤrmt und be¬
geiſtert, ſondern herzliche Langeweile erregt, wenn
auch ganze Zeiten und gewiſſe Menſchen bemuͤht
ſind, ſich, zu Ehren der epiſchen, vaterlaͤndiſchen
Muſe, daruͤber in Selbſttaͤuſchung zu erhalten.
Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder
patriotiſche Deutſche den Namen des Klopſtockiſchen
Meſſias ſchimpfshalber mit einiger Entzuͤckung aus¬
ſprechen, mochte er den Meſſias geleſen haben oder
nicht; gegenwaͤrtig, wo vielleicht kein Menſch in
Deutſchland lebt, der ſich der vollſtaͤndigen Durch¬
leſung der Meſſiade beruͤhmen kann, iſt es er¬
laubt, bei aller Achtung fuͤr die rieſenhafte Arbeit
eines abſtrakten Dichtergenius, ſich deſſen nicht zu
ſchaͤmen und jeder Anmuthung der Art durch ſchla¬
gende Gruͤnde zu begegnen. Es iſt ausgemacht,
daß jedes epiſche Gedicht neuerer Zeit, je laͤnger
es gerieth, deſto langweiliger gerathen iſt, und daß
nur die beſondere romantiſch-katholiſche Natur der
Comoedia divina des Arioſt's und des befreiten
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/259>, abgerufen am 22.11.2024.
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