lichen Leben, von seinen eignen Gefühlen, Ueber¬ zeugungen und Anschauungen. Der frühere Mensch aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit, er sog die Vergangenheit ein mit der Mutter¬ milch, sie war ihm ein integrirender Theil seines Wesens und alle Erscheinungen, Thaten, Gefühle derselben blieben ihm so verständlich, wie die Er¬ scheinungen, Thaten und Gefühle der Gegenwart selber. Was daher ein Dichter von der Gegen¬ wart sang, das sang er im gewissen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachrühmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart. Warum aber der Dichter am Liebsten die Thaten der Vergangenheit darstellte, mit denen dann die Ansichten und Gefühle der Gegenwart zusammen¬ schmolzen, davon lag der Grund, wie es mir scheint, in der volkseinheitlichen, unpersönlichen Richtung der Poesie, welche den Dichter mit sei¬ nen individuellen Ansichten von Zeitcharakteren und Zeitereignissen ganz in den Hintergrund treten ließ und statt dessen nur den vollen, ungetheilten Strom der Volkssage in die Dichtung einleitete. Die Poesie verlangte eine gewisse Ferne, ein Läute¬ rungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile und Nichtigkeiten beschränkter Ansichten von sich abzuscheiden, und nur die Stimme des Volkes,
Wienbarg, ästhet. Feldz. 16
lichen Leben, von ſeinen eignen Gefuͤhlen, Ueber¬ zeugungen und Anſchauungen. Der fruͤhere Menſch aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit, er ſog die Vergangenheit ein mit der Mutter¬ milch, ſie war ihm ein integrirender Theil ſeines Weſens und alle Erſcheinungen, Thaten, Gefuͤhle derſelben blieben ihm ſo verſtaͤndlich, wie die Er¬ ſcheinungen, Thaten und Gefuͤhle der Gegenwart ſelber. Was daher ein Dichter von der Gegen¬ wart ſang, das ſang er im gewiſſen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachruͤhmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart. Warum aber der Dichter am Liebſten die Thaten der Vergangenheit darſtellte, mit denen dann die Anſichten und Gefuͤhle der Gegenwart zuſammen¬ ſchmolzen, davon lag der Grund, wie es mir ſcheint, in der volkseinheitlichen, unperſoͤnlichen Richtung der Poeſie, welche den Dichter mit ſei¬ nen individuellen Anſichten von Zeitcharakteren und Zeitereigniſſen ganz in den Hintergrund treten ließ und ſtatt deſſen nur den vollen, ungetheilten Strom der Volksſage in die Dichtung einleitete. Die Poeſie verlangte eine gewiſſe Ferne, ein Laͤute¬ rungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile und Nichtigkeiten beſchraͤnkter Anſichten von ſich abzuſcheiden, und nur die Stimme des Volkes,
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 16
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lichen Leben, von ſeinen eignen Gefuͤhlen, Ueber¬
zeugungen und Anſchauungen. Der fruͤhere Menſch
aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit,
er ſog die Vergangenheit ein mit der Mutter¬
milch, ſie war ihm ein integrirender Theil ſeines
Weſens und alle Erſcheinungen, Thaten, Gefuͤhle
derſelben blieben ihm ſo verſtaͤndlich, wie die Er¬
ſcheinungen, Thaten und Gefuͤhle der Gegenwart
ſelber. Was daher ein Dichter von der Gegen¬
wart ſang, das ſang er im gewiſſen Sinn auch
von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er
der Vergangenheit Großes nachruͤhmte, davon
traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart.
Warum aber der Dichter am Liebſten die Thaten
der Vergangenheit darſtellte, mit denen dann die
Anſichten und Gefuͤhle der Gegenwart zuſammen¬
ſchmolzen, davon lag der Grund, wie es mir
ſcheint, in der volkseinheitlichen, unperſoͤnlichen
Richtung der Poeſie, welche den Dichter mit ſei¬
nen individuellen Anſichten von Zeitcharakteren und
Zeitereigniſſen ganz in den Hintergrund treten ließ
und ſtatt deſſen nur den vollen, ungetheilten Strom
der Volksſage in die Dichtung einleitete. Die
Poeſie verlangte eine gewiſſe Ferne, ein Laͤute¬
rungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile
und Nichtigkeiten beſchraͤnkter Anſichten von ſich
abzuſcheiden, und nur die Stimme des Volkes,
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 16
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/255>, abgerufen am 22.11.2024.
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