Gebot einer künstlichen, mißverstandenen Pflicht, er hört sie, überhört sie, flieht, macht ein edles Wesen, sich selbst im Grunde der Seele unglück¬ lich, triumphirt aber als guter Kantianer über den Sieg der Pflicht über die Leidenschaft, nach un¬ serm Gefühl der sophistischen Unnatur über die menschliche Natur, welche uns unbewußter und leiser, aber desto richtiger die Pfade des Lebens führt, als ein willkührliches und erdichtetes Mo¬ ralgesetz, als ein Götzenbild unserer Philosophie.
Untersuchen wir nun, worauf die Herabsetzung des Aesthetischen in dieser Ansicht beruht, so fin¬ den wir, daß eine völlige Verkennung sowohl des Schönen als des Sittlichen ihre Quelle ist. We¬ sen, die schön denken und schön handeln, ist das Gute mit dem Schönen völlig identisch. Allein, wenn das Leben verdirbt und von der Schönheit nur die Kunst nachbleibt, so taucht eine Moral auf, die um so unerbittlicher den Rest schöner Nei¬ gungen bekämpft, als diese wirklich, aus ihrem Zusammenhang mit dem Leben gerissen, nur zu oft in Gefahr stehen, dem bloßen sinnlichen Trieb anheim zu fallen und durch gemeine Beisätze ent¬ adelt zu werden. Niemand hat in solcher Zeit den rechten Muth, sich seiner Natur zu überlassen, als ob Jeder fürchtete, sich in seiner Blöße zu
Wienbarg, ästhet. Feldz. 11
Gebot einer kuͤnſtlichen, mißverſtandenen Pflicht, er hoͤrt ſie, uͤberhoͤrt ſie, flieht, macht ein edles Weſen, ſich ſelbſt im Grunde der Seele ungluͤck¬ lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den Sieg der Pflicht uͤber die Leidenſchaft, nach un¬ ſerm Gefuͤhl der ſophiſtiſchen Unnatur uͤber die menſchliche Natur, welche uns unbewußter und leiſer, aber deſto richtiger die Pfade des Lebens fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬ ralgeſetz, als ein Goͤtzenbild unſerer Philoſophie.
Unterſuchen wir nun, worauf die Herabſetzung des Aeſthetiſchen in dieſer Anſicht beruht, ſo fin¬ den wir, daß eine voͤllige Verkennung ſowohl des Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle iſt. We¬ ſen, die ſchoͤn denken und ſchoͤn handeln, iſt das Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identiſch. Allein, wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit nur die Kunſt nachbleibt, ſo taucht eine Moral auf, die um ſo unerbittlicher den Reſt ſchoͤner Nei¬ gungen bekaͤmpft, als dieſe wirklich, aus ihrem Zuſammenhang mit dem Leben geriſſen, nur zu oft in Gefahr ſtehen, dem bloßen ſinnlichen Trieb anheim zu fallen und durch gemeine Beiſaͤtze ent¬ adelt zu werden. Niemand hat in ſolcher Zeit den rechten Muth, ſich ſeiner Natur zu uͤberlaſſen, als ob Jeder fuͤrchtete, ſich in ſeiner Bloͤße zu
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 11
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Gebot einer kuͤnſtlichen, mißverſtandenen Pflicht,
er hoͤrt ſie, uͤberhoͤrt ſie, flieht, macht ein edles
Weſen, ſich ſelbſt im Grunde der Seele ungluͤck¬
lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den
Sieg der Pflicht uͤber die Leidenſchaft, nach un¬
ſerm Gefuͤhl der ſophiſtiſchen Unnatur uͤber die
menſchliche Natur, welche uns unbewußter und
leiſer, aber deſto richtiger die Pfade des Lebens
fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬
ralgeſetz, als ein Goͤtzenbild unſerer Philoſophie.
Unterſuchen wir nun, worauf die Herabſetzung
des Aeſthetiſchen in dieſer Anſicht beruht, ſo fin¬
den wir, daß eine voͤllige Verkennung ſowohl des
Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle iſt. We¬
ſen, die ſchoͤn denken und ſchoͤn handeln, iſt das
Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identiſch. Allein,
wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit
nur die Kunſt nachbleibt, ſo taucht eine Moral
auf, die um ſo unerbittlicher den Reſt ſchoͤner Nei¬
gungen bekaͤmpft, als dieſe wirklich, aus ihrem
Zuſammenhang mit dem Leben geriſſen, nur zu
oft in Gefahr ſtehen, dem bloßen ſinnlichen Trieb
anheim zu fallen und durch gemeine Beiſaͤtze ent¬
adelt zu werden. Niemand hat in ſolcher Zeit
den rechten Muth, ſich ſeiner Natur zu uͤberlaſſen,
als ob Jeder fuͤrchtete, ſich in ſeiner Bloͤße zu
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 11
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/175>, abgerufen am 24.11.2024.
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