hingegebene, Alles vergessende Affekt? Heißt das lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten noch an sich selbst denkt? So sophistisch, fährt er fort, weiß dieser Affekt die moralische Stimme in uns verächtlich zu machen und unsere sittliche Würde als ein Bestandstück unserer Glückseligkeit vorzustellen, das zu veräußern in unserer Macht steht.
Der Fall ist gut gewählt, doch schützt er nicht, um den Trugschluß der ganzen Ansicht, die Willkühr philosophischer Lehrsätze eines Jahrhun¬ derts hinter der Willkühr eigner Natur zu ver¬ stecken.
Wir sehen hier einen Menschen, den die Liebe verführt, dem, was er für Pflicht hält, untreu zu werden oder vielmehr, der sich eine höhere Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Mensch¬ heit zu übertreten. Seine Neigung war an sich eine edle, sie war entsprungen aus dem Schön¬ heitsgefühl, hatte sich gesteigert zur Leidenschaft und drohte nur als solche der Sittlichkeit und dem Pflichtgefühl gefährlich zu werden, sie war also in ihrem Laufe eine andere geworden, das Schön¬ heitsgefühl, das eine zarte Neigung erzeugte, und sich mit dieser verschmolz, war getrübt worden durch heftige Leidenschaft, diese aber verbindet sich bekanntlich eben so oft mit der Liebe, als mit dem
hingegebene, Alles vergeſſende Affekt? Heißt das lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten noch an ſich ſelbſt denkt? So ſophiſtiſch, faͤhrt er fort, weiß dieſer Affekt die moraliſche Stimme in uns veraͤchtlich zu machen und unſere ſittliche Wuͤrde als ein Beſtandſtuͤck unſerer Gluͤckſeligkeit vorzuſtellen, das zu veraͤußern in unſerer Macht ſteht.
Der Fall iſt gut gewaͤhlt, doch ſchuͤtzt er nicht, um den Trugſchluß der ganzen Anſicht, die Willkuͤhr philoſophiſcher Lehrſaͤtze eines Jahrhun¬ derts hinter der Willkuͤhr eigner Natur zu ver¬ ſtecken.
Wir ſehen hier einen Menſchen, den die Liebe verfuͤhrt, dem, was er fuͤr Pflicht haͤlt, untreu zu werden oder vielmehr, der ſich eine hoͤhere Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Menſch¬ heit zu uͤbertreten. Seine Neigung war an ſich eine edle, ſie war entſprungen aus dem Schoͤn¬ heitsgefuͤhl, hatte ſich geſteigert zur Leidenſchaft und drohte nur als ſolche der Sittlichkeit und dem Pflichtgefuͤhl gefaͤhrlich zu werden, ſie war alſo in ihrem Laufe eine andere geworden, das Schoͤn¬ heitsgefuͤhl, das eine zarte Neigung erzeugte, und ſich mit dieſer verſchmolz, war getruͤbt worden durch heftige Leidenſchaft, dieſe aber verbindet ſich bekanntlich eben ſo oft mit der Liebe, als mit dem
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hingegebene, Alles vergeſſende Affekt? Heißt das
lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten
noch an ſich ſelbſt denkt? So ſophiſtiſch, faͤhrt
er fort, weiß dieſer Affekt die moraliſche Stimme
in uns veraͤchtlich zu machen und unſere ſittliche
Wuͤrde als ein Beſtandſtuͤck unſerer Gluͤckſeligkeit
vorzuſtellen, das zu veraͤußern in unſerer Macht
ſteht.
Der Fall iſt gut gewaͤhlt, doch ſchuͤtzt er
nicht, um den Trugſchluß der ganzen Anſicht, die
Willkuͤhr philoſophiſcher Lehrſaͤtze eines Jahrhun¬
derts hinter der Willkuͤhr eigner Natur zu ver¬
ſtecken.
Wir ſehen hier einen Menſchen, den die Liebe
verfuͤhrt, dem, was er fuͤr Pflicht haͤlt, untreu
zu werden oder vielmehr, der ſich eine hoͤhere
Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Menſch¬
heit zu uͤbertreten. Seine Neigung war an ſich
eine edle, ſie war entſprungen aus dem Schoͤn¬
heitsgefuͤhl, hatte ſich geſteigert zur Leidenſchaft
und drohte nur als ſolche der Sittlichkeit und dem
Pflichtgefuͤhl gefaͤhrlich zu werden, ſie war alſo in
ihrem Laufe eine andere geworden, das Schoͤn¬
heitsgefuͤhl, das eine zarte Neigung erzeugte, und
ſich mit dieſer verſchmolz, war getruͤbt worden
durch heftige Leidenſchaft, dieſe aber verbindet ſich
bekanntlich eben ſo oft mit der Liebe, als mit dem
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/172>, abgerufen am 24.11.2024.
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