zu Grunde liegt, konnte scheiden, was Gott ver¬ einigt hat, konnte mit dürren Schulbegriffen in der geheimnißvollen Werkstatt des Lebens operiren. So wenig in solcher Zeit die Theologie mit der Religion, so wenig hat die Moral mit der Sitt¬ lichkeit, mit der Anwendung auf das öffentliche und einzelne Leben zu schaffen. Was man Moral nennt, wird ein todtes Abstraktum von Pflichten- und Tugendlehre, die sich den Anstrich geben, ab¬ solut gültig zu sein und jedem Menschenkinde als apodiktische Richtschnur des Handelns zu dienen. Was man Aesthetik nennt, wird ein ähnliches Ab¬ straktum von Schönheitslehren für alle Zeiten und Generationen, von der absoluten Natur moralischer Nöthigungen nur dadurch unterschieden, daß diese auf einem kategorischen Imperativ beruhe, jene aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der Wahl und Willkühr weiteren Spielraum öffnen. Unter den Händen der Philosophen bekam die Aesthetik eine sehr untergeordnete Stellung, wie besonders im System des Heros der kritischen Philosophie. Während Kant die Erhabenheit der Pflicht, die Majestät des Gesetzes mit kräftigen und glänzenden Farben schilderte, stand ihm das Bewußtsein und das Gefühl des Schönen ein klein wenig über den thierischen Vorstellungskräften; das Schöne selbst ist ihm etwas Begriffloses, eine
zu Grunde liegt, konnte ſcheiden, was Gott ver¬ einigt hat, konnte mit duͤrren Schulbegriffen in der geheimnißvollen Werkſtatt des Lebens operiren. So wenig in ſolcher Zeit die Theologie mit der Religion, ſo wenig hat die Moral mit der Sitt¬ lichkeit, mit der Anwendung auf das oͤffentliche und einzelne Leben zu ſchaffen. Was man Moral nennt, wird ein todtes Abſtraktum von Pflichten- und Tugendlehre, die ſich den Anſtrich geben, ab¬ ſolut guͤltig zu ſein und jedem Menſchenkinde als apodiktiſche Richtſchnur des Handelns zu dienen. Was man Aeſthetik nennt, wird ein aͤhnliches Ab¬ ſtraktum von Schoͤnheitslehren fuͤr alle Zeiten und Generationen, von der abſoluten Natur moraliſcher Noͤthigungen nur dadurch unterſchieden, daß dieſe auf einem kategoriſchen Imperativ beruhe, jene aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der Wahl und Willkuͤhr weiteren Spielraum oͤffnen. Unter den Haͤnden der Philoſophen bekam die Aeſthetik eine ſehr untergeordnete Stellung, wie beſonders im Syſtem des Heros der kritiſchen Philoſophie. Waͤhrend Kant die Erhabenheit der Pflicht, die Majeſtaͤt des Geſetzes mit kraͤftigen und glaͤnzenden Farben ſchilderte, ſtand ihm das Bewußtſein und das Gefuͤhl des Schoͤnen ein klein wenig uͤber den thieriſchen Vorſtellungskraͤften; das Schoͤne ſelbſt iſt ihm etwas Begriffloſes, eine
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zu Grunde liegt, konnte ſcheiden, was Gott ver¬
einigt hat, konnte mit duͤrren Schulbegriffen in
der geheimnißvollen Werkſtatt des Lebens operiren.
So wenig in ſolcher Zeit die Theologie mit der
Religion, ſo wenig hat die Moral mit der Sitt¬
lichkeit, mit der Anwendung auf das oͤffentliche
und einzelne Leben zu ſchaffen. Was man Moral
nennt, wird ein todtes Abſtraktum von Pflichten-
und Tugendlehre, die ſich den Anſtrich geben, ab¬
ſolut guͤltig zu ſein und jedem Menſchenkinde als
apodiktiſche Richtſchnur des Handelns zu dienen.
Was man Aeſthetik nennt, wird ein aͤhnliches Ab¬
ſtraktum von Schoͤnheitslehren fuͤr alle Zeiten und
Generationen, von der abſoluten Natur moraliſcher
Noͤthigungen nur dadurch unterſchieden, daß dieſe
auf einem kategoriſchen Imperativ beruhe, jene
aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der
Wahl und Willkuͤhr weiteren Spielraum oͤffnen.
Unter den Haͤnden der Philoſophen bekam die
Aeſthetik eine ſehr untergeordnete Stellung, wie
beſonders im Syſtem des Heros der kritiſchen
Philoſophie. Waͤhrend Kant die Erhabenheit der
Pflicht, die Majeſtaͤt des Geſetzes mit kraͤftigen
und glaͤnzenden Farben ſchilderte, ſtand ihm das
Bewußtſein und das Gefuͤhl des Schoͤnen ein klein
wenig uͤber den thieriſchen Vorſtellungskraͤften;
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/167>, abgerufen am 25.11.2024.
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