Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.30. Nun, flüstert ihm die Jungfrau, edler Ritter,Was zögert ihr? Er schläft. Den ring, und einen hieb, So ists gethan! -- "Dazu ist mir mein ruhm zu lieb; Ein feind, der schlafend liegt und nackter als ein splitter, Schläft sicher neben mir; erst wecken will ich ihn." So macht euch wenigstens zuvor des ringes meister, Spricht sie. Der Ritter naht, den reif ihm abzuziehn, Und macht, unwissend, sich zum Oberherrn der Geister. 31. Der ring hat, neben mancher kraft,Die Hüon noch nicht kennt, auch diese eigenschaft, An jeden finger stracks sich biegsam anzufügen; Klein oder groß, er wird sich dehnen oder schmiegen, Wie's nöthig ist. Der Paladin begafft Den wundervollen reif mit schaurlichem vergnügen, Faßt drauf des Riesen arm, und schüttelt ihn mit macht So lang und stark, bis er zulezt erwacht. 32. Kaum fängt der Riese sich zu regen an, so fliehetDie tochter Balazins mit einem lauten schrey. Herr Hüon, seinem muth und ritterstand getreu, Bleibt ruhig stehn. Wie ihn der Heide siehet, Schreyt er ihn grimmig an: Wer bist du, kleiner wicht, Der meinen morgenschlaf so tollkühn unterbricht? Dein köpfchen muß, weil du's von freyen stücken Mir vor die füße legst, dich unerträglich jücken? 33. Steh D 5
30. Nun, fluͤſtert ihm die Jungfrau, edler Ritter,Was zoͤgert ihr? Er ſchlaͤft. Den ring, und einen hieb, So iſts gethan! — „Dazu iſt mir mein ruhm zu lieb; Ein feind, der ſchlafend liegt und nackter als ein ſplitter, Schlaͤft ſicher neben mir; erſt wecken will ich ihn.“ So macht euch wenigſtens zuvor des ringes meiſter, Spricht ſie. Der Ritter naht, den reif ihm abzuziehn, Und macht, unwiſſend, ſich zum Oberherrn der Geiſter. 31. Der ring hat, neben mancher kraft,Die Huͤon noch nicht kennt, auch dieſe eigenſchaft, An jeden finger ſtracks ſich biegſam anzufuͤgen; Klein oder groß, er wird ſich dehnen oder ſchmiegen, Wie's noͤthig iſt. Der Paladin begafft Den wundervollen reif mit ſchaurlichem vergnuͤgen, Faßt drauf des Rieſen arm, und ſchuͤttelt ihn mit macht So lang und ſtark, bis er zulezt erwacht. 32. Kaum faͤngt der Rieſe ſich zu regen an, ſo fliehetDie tochter Balazins mit einem lauten ſchrey. Herr Huͤon, ſeinem muth und ritterſtand getreu, Bleibt ruhig ſtehn. Wie ihn der Heide ſiehet, Schreyt er ihn grimmig an: Wer biſt du, kleiner wicht, Der meinen morgenſchlaf ſo tollkuͤhn unterbricht? Dein koͤpfchen muß, weil du's von freyen ſtuͤcken Mir vor die fuͤße legſt, dich unertraͤglich juͤcken? 33. Steh D 5
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30.
Nun, fluͤſtert ihm die Jungfrau, edler Ritter,
Was zoͤgert ihr? Er ſchlaͤft. Den ring, und einen hieb,
So iſts gethan! — „Dazu iſt mir mein ruhm zu lieb;
Ein feind, der ſchlafend liegt und nackter als ein ſplitter,
Schlaͤft ſicher neben mir; erſt wecken will ich ihn.“
So macht euch wenigſtens zuvor des ringes meiſter,
Spricht ſie. Der Ritter naht, den reif ihm abzuziehn,
Und macht, unwiſſend, ſich zum Oberherrn der Geiſter.
31.
Der ring hat, neben mancher kraft,
Die Huͤon noch nicht kennt, auch dieſe eigenſchaft,
An jeden finger ſtracks ſich biegſam anzufuͤgen;
Klein oder groß, er wird ſich dehnen oder ſchmiegen,
Wie's noͤthig iſt. Der Paladin begafft
Den wundervollen reif mit ſchaurlichem vergnuͤgen,
Faßt drauf des Rieſen arm, und ſchuͤttelt ihn mit macht
So lang und ſtark, bis er zulezt erwacht.
32.
Kaum faͤngt der Rieſe ſich zu regen an, ſo fliehet
Die tochter Balazins mit einem lauten ſchrey.
Herr Huͤon, ſeinem muth und ritterſtand getreu,
Bleibt ruhig ſtehn. Wie ihn der Heide ſiehet,
Schreyt er ihn grimmig an: Wer biſt du, kleiner wicht,
Der meinen morgenſchlaf ſo tollkuͤhn unterbricht?
Dein koͤpfchen muß, weil du's von freyen ſtuͤcken
Mir vor die fuͤße legſt, dich unertraͤglich juͤcken?
33. Steh
D 5
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