Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Achtes Buch, sechstes Capitel.
Und was für Ursache hatte er, sich auf die Stärke seiner
Grundsäze zu verlassen? -- Auch in diesem Stüke
schwebte er in einem subtilen Selbstbetrug, den ihm
vielleicht nur die Erfahrung sichtbar machen konnte.
Entzükt von der Jdee der Tugend, ließ er sich nicht träu-
men, daß das Gegentheil dieser intellectualischen Schön-
heit jemals Reize für seine Seele haben könnte. Die
Erfahrung mußte ihn belehren, wie betrüglich unsere
Jdeen sind, wenn wir sie unvorsichtig realisiren --
Betrachtet die Tugend in sich selbst, in ihrer höchsten
Vollkommenheit -- so ist sie göttlich, ja (nach dem
kühnen aber richtigen Ausdruk eines vortreflichen Schrift-
Stellers) die Gottheit selbst. -- Aber welcher Sterb-
liche ist berechtigt, auf die allmächtige Stärke dieser idea-
len Tugend zu trozen? Es kömmt bey einem jeden dar-
auf an, wie viel die seinige vermag. -- Was ist
häßlicher als die Jdee des Lasters? Agathon glaubte
sich also auf die Unmöglichkeit, es jemals liebenswürdig
zu finden, verlassen zu können, und betrog sich, --
weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes
Licht giebt, worinn die Grenzen der Tugend und der
Untugend schwimmen; worinn Schönheit und Grazien dem
Laster einen Glanz mittheilen, der seine Häßlichkeit über-
güldet, der ihm sogar die Farbe und Anmuth der Tugend
giebt? und daß es allzuleicht lst, in dieser verführischen
Dämmerung sich aus dem Bezirk der leztern in eine
unmerkliche Spiral-Linie zu verliehren, deren Mittel-

Punct

Achtes Buch, ſechstes Capitel.
Und was fuͤr Urſache hatte er, ſich auf die Staͤrke ſeiner
Grundſaͤze zu verlaſſen? — Auch in dieſem Stuͤke
ſchwebte er in einem ſubtilen Selbſtbetrug, den ihm
vielleicht nur die Erfahrung ſichtbar machen konnte.
Entzuͤkt von der Jdee der Tugend, ließ er ſich nicht traͤu-
men, daß das Gegentheil dieſer intellectualiſchen Schoͤn-
heit jemals Reize fuͤr ſeine Seele haben koͤnnte. Die
Erfahrung mußte ihn belehren, wie betruͤglich unſere
Jdeen ſind, wenn wir ſie unvorſichtig realiſiren —
Betrachtet die Tugend in ſich ſelbſt, in ihrer hoͤchſten
Vollkommenheit — ſo iſt ſie goͤttlich, ja (nach dem
kuͤhnen aber richtigen Ausdruk eines vortreflichen Schrift-
Stellers) die Gottheit ſelbſt. — Aber welcher Sterb-
liche iſt berechtigt, auf die allmaͤchtige Staͤrke dieſer idea-
len Tugend zu trozen? Es koͤmmt bey einem jeden dar-
auf an, wie viel die ſeinige vermag. — Was iſt
haͤßlicher als die Jdee des Laſters? Agathon glaubte
ſich alſo auf die Unmoͤglichkeit, es jemals liebenswuͤrdig
zu finden, verlaſſen zu koͤnnen, und betrog ſich, —
weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes
Licht giebt, worinn die Grenzen der Tugend und der
Untugend ſchwim̃en; worinn Schoͤnheit und Grazien dem
Laſter einen Glanz mittheilen, der ſeine Haͤßlichkeit uͤber-
guͤldet, der ihm ſogar die Farbe und Anmuth der Tugend
giebt? und daß es allzuleicht lſt, in dieſer verfuͤhriſchen
Daͤmmerung ſich aus dem Bezirk der leztern in eine
unmerkliche Spiral-Linie zu verliehren, deren Mittel-

Punct
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0061" n="59"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Achtes Buch, &#x017F;echstes Capitel.</hi></fw><lb/>
Und was fu&#x0364;r Ur&#x017F;ache hatte er, &#x017F;ich auf die Sta&#x0364;rke &#x017F;einer<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;ze zu verla&#x017F;&#x017F;en? &#x2014; Auch in die&#x017F;em Stu&#x0364;ke<lb/>
&#x017F;chwebte er in einem &#x017F;ubtilen Selb&#x017F;tbetrug, den ihm<lb/>
vielleicht nur die Erfahrung &#x017F;ichtbar machen konnte.<lb/>
Entzu&#x0364;kt von der Jdee der Tugend, ließ er &#x017F;ich nicht tra&#x0364;u-<lb/>
men, daß das Gegentheil die&#x017F;er intellectuali&#x017F;chen Scho&#x0364;n-<lb/>
heit jemals Reize fu&#x0364;r &#x017F;eine Seele haben ko&#x0364;nnte. Die<lb/>
Erfahrung mußte ihn belehren, wie betru&#x0364;glich un&#x017F;ere<lb/>
Jdeen &#x017F;ind, wenn wir &#x017F;ie unvor&#x017F;ichtig reali&#x017F;iren &#x2014;<lb/>
Betrachtet die Tugend in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, in ihrer ho&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Vollkommenheit &#x2014; &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie go&#x0364;ttlich, ja (nach dem<lb/>
ku&#x0364;hnen aber richtigen Ausdruk eines vortreflichen Schrift-<lb/>
Stellers) die Gottheit &#x017F;elb&#x017F;t. &#x2014; Aber welcher Sterb-<lb/>
liche i&#x017F;t berechtigt, auf die allma&#x0364;chtige Sta&#x0364;rke die&#x017F;er idea-<lb/>
len Tugend zu trozen? Es ko&#x0364;mmt bey einem jeden dar-<lb/>
auf an, wie viel die &#x017F;einige vermag. &#x2014; Was i&#x017F;t<lb/>
ha&#x0364;ßlicher als die Jdee des La&#x017F;ters? Agathon glaubte<lb/>
&#x017F;ich al&#x017F;o auf die Unmo&#x0364;glichkeit, es jemals liebenswu&#x0364;rdig<lb/>
zu finden, verla&#x017F;&#x017F;en zu ko&#x0364;nnen, und betrog &#x017F;ich, &#x2014;<lb/>
weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes<lb/>
Licht giebt, worinn die Grenzen der Tugend und der<lb/>
Untugend &#x017F;chwim&#x0303;en; worinn Scho&#x0364;nheit und Grazien dem<lb/>
La&#x017F;ter einen Glanz mittheilen, der &#x017F;eine Ha&#x0364;ßlichkeit u&#x0364;ber-<lb/>
gu&#x0364;ldet, der ihm &#x017F;ogar die Farbe und Anmuth der Tugend<lb/>
giebt? und daß es allzuleicht l&#x017F;t, in die&#x017F;er verfu&#x0364;hri&#x017F;chen<lb/>
Da&#x0364;mmerung &#x017F;ich aus dem Bezirk der leztern in eine<lb/>
unmerkliche Spiral-Linie zu verliehren, deren Mittel-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Punct</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0061] Achtes Buch, ſechstes Capitel. Und was fuͤr Urſache hatte er, ſich auf die Staͤrke ſeiner Grundſaͤze zu verlaſſen? — Auch in dieſem Stuͤke ſchwebte er in einem ſubtilen Selbſtbetrug, den ihm vielleicht nur die Erfahrung ſichtbar machen konnte. Entzuͤkt von der Jdee der Tugend, ließ er ſich nicht traͤu- men, daß das Gegentheil dieſer intellectualiſchen Schoͤn- heit jemals Reize fuͤr ſeine Seele haben koͤnnte. Die Erfahrung mußte ihn belehren, wie betruͤglich unſere Jdeen ſind, wenn wir ſie unvorſichtig realiſiren — Betrachtet die Tugend in ſich ſelbſt, in ihrer hoͤchſten Vollkommenheit — ſo iſt ſie goͤttlich, ja (nach dem kuͤhnen aber richtigen Ausdruk eines vortreflichen Schrift- Stellers) die Gottheit ſelbſt. — Aber welcher Sterb- liche iſt berechtigt, auf die allmaͤchtige Staͤrke dieſer idea- len Tugend zu trozen? Es koͤmmt bey einem jeden dar- auf an, wie viel die ſeinige vermag. — Was iſt haͤßlicher als die Jdee des Laſters? Agathon glaubte ſich alſo auf die Unmoͤglichkeit, es jemals liebenswuͤrdig zu finden, verlaſſen zu koͤnnen, und betrog ſich, — weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes Licht giebt, worinn die Grenzen der Tugend und der Untugend ſchwim̃en; worinn Schoͤnheit und Grazien dem Laſter einen Glanz mittheilen, der ſeine Haͤßlichkeit uͤber- guͤldet, der ihm ſogar die Farbe und Anmuth der Tugend giebt? und daß es allzuleicht lſt, in dieſer verfuͤhriſchen Daͤmmerung ſich aus dem Bezirk der leztern in eine unmerkliche Spiral-Linie zu verliehren, deren Mittel- Punct

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/61
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/61>, abgerufen am 23.11.2024.