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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, zweytes Capitel.
drüke von den Gegenständen empfangen; aber sie waren
nicht so lebhaft und von keiner so starken Erschütterung
begleitet, wie bey denjenigen, welche, durch zärtlichere
Werkzeuge und reizbarere Sinnen zu den enthusiasti-
schen Künsten der Musen bestimmet, den zweydeutigen
Vorzug einer zauberischen Einbildungs-Kraft und eines
unendlich empfindlichen Herzens durch die Tyrannie
der Leidenschaften, der sie, mehr oder weniger, unter-
worfen sind, theuer genug bezahlen müssen. Archytas
hatte es dem Mangel dieses eben so schimmernden, als
wenig beneidenswerthen Vorzugs zu danken, daß er
wenig Mühe hatte, Ruhe und Ordnung in seiner inner-
lichen Verfassung zu erhalten; daß er anstatt von sei-
nen Jdeen und Empfindungen beherrscht zu werden,
allezeit Meister von ihnen blieb, und die Verirrungen
des Geistes und des Herzens nur aus der Erfahrung
andrer kannte, von denen das schwärmerische Volk der
Helden, Dichter und Virtuosen aller Arten aus seiner
eigenen sprechen kann. Und daher kam es auch, daß
die Pythagoräische Philosophie, in deren Grundsäzen
er erzogen worden war -- eben diese Philosophie,
welche in dem Gehirne so vieler andrer zu einem selt-
samen Gemische von Wahrheit und Träumerey wur-
de, -- sich durch Nachdenken und Erfahrung in dem
seinigen zu einem System von eben so simpeln, als
fruchtbaren und practischen Begriffen ausbildete; zu ei-
nem System, welches der Wahrheit näher zu kommen
scheint, als irgend ein anders; welches die menschliche
Natur veredelt, ohne sie aufzublähen, und ihr Aus-

sichten
U 3

Eilftes Buch, zweytes Capitel.
druͤke von den Gegenſtaͤnden empfangen; aber ſie waren
nicht ſo lebhaft und von keiner ſo ſtarken Erſchuͤtterung
begleitet, wie bey denjenigen, welche, durch zaͤrtlichere
Werkzeuge und reizbarere Sinnen zu den enthuſiaſti-
ſchen Kuͤnſten der Muſen beſtimmet, den zweydeutigen
Vorzug einer zauberiſchen Einbildungs-Kraft und eines
unendlich empfindlichen Herzens durch die Tyrannie
der Leidenſchaften, der ſie, mehr oder weniger, unter-
worfen ſind, theuer genug bezahlen muͤſſen. Archytas
hatte es dem Mangel dieſes eben ſo ſchimmernden, als
wenig beneidenswerthen Vorzugs zu danken, daß er
wenig Muͤhe hatte, Ruhe und Ordnung in ſeiner inner-
lichen Verfaſſung zu erhalten; daß er anſtatt von ſei-
nen Jdeen und Empfindungen beherrſcht zu werden,
allezeit Meiſter von ihnen blieb, und die Verirrungen
des Geiſtes und des Herzens nur aus der Erfahrung
andrer kannte, von denen das ſchwaͤrmeriſche Volk der
Helden, Dichter und Virtuoſen aller Arten aus ſeiner
eigenen ſprechen kann. Und daher kam es auch, daß
die Pythagoraͤiſche Philoſophie, in deren Grundſaͤzen
er erzogen worden war ‒‒ eben dieſe Philoſophie,
welche in dem Gehirne ſo vieler andrer zu einem ſelt-
ſamen Gemiſche von Wahrheit und Traͤumerey wur-
de, ‒‒ ſich durch Nachdenken und Erfahrung in dem
ſeinigen zu einem Syſtem von eben ſo ſimpeln, als
fruchtbaren und practiſchen Begriffen ausbildete; zu ei-
nem Syſtem, welches der Wahrheit naͤher zu kommen
ſcheint, als irgend ein anders; welches die menſchliche
Natur veredelt, ohne ſie aufzublaͤhen, und ihr Aus-

ſichten
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[309/0311] Eilftes Buch, zweytes Capitel. druͤke von den Gegenſtaͤnden empfangen; aber ſie waren nicht ſo lebhaft und von keiner ſo ſtarken Erſchuͤtterung begleitet, wie bey denjenigen, welche, durch zaͤrtlichere Werkzeuge und reizbarere Sinnen zu den enthuſiaſti- ſchen Kuͤnſten der Muſen beſtimmet, den zweydeutigen Vorzug einer zauberiſchen Einbildungs-Kraft und eines unendlich empfindlichen Herzens durch die Tyrannie der Leidenſchaften, der ſie, mehr oder weniger, unter- worfen ſind, theuer genug bezahlen muͤſſen. Archytas hatte es dem Mangel dieſes eben ſo ſchimmernden, als wenig beneidenswerthen Vorzugs zu danken, daß er wenig Muͤhe hatte, Ruhe und Ordnung in ſeiner inner- lichen Verfaſſung zu erhalten; daß er anſtatt von ſei- nen Jdeen und Empfindungen beherrſcht zu werden, allezeit Meiſter von ihnen blieb, und die Verirrungen des Geiſtes und des Herzens nur aus der Erfahrung andrer kannte, von denen das ſchwaͤrmeriſche Volk der Helden, Dichter und Virtuoſen aller Arten aus ſeiner eigenen ſprechen kann. Und daher kam es auch, daß die Pythagoraͤiſche Philoſophie, in deren Grundſaͤzen er erzogen worden war ‒‒ eben dieſe Philoſophie, welche in dem Gehirne ſo vieler andrer zu einem ſelt- ſamen Gemiſche von Wahrheit und Traͤumerey wur- de, ‒‒ ſich durch Nachdenken und Erfahrung in dem ſeinigen zu einem Syſtem von eben ſo ſimpeln, als fruchtbaren und practiſchen Begriffen ausbildete; zu ei- nem Syſtem, welches der Wahrheit naͤher zu kommen ſcheint, als irgend ein anders; welches die menſchliche Natur veredelt, ohne ſie aufzublaͤhen, und ihr Aus- ſichten U 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/311>, abgerufen am 18.04.2024.