Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
thums überführt worden wäre -- einen wahrhaftig
weisen Mann, einen Mann, der nichts zu seyn schei-
nen wollte, als was er würklich war, und an welchem
das scharfsichtigste Auge nichts entdeken konnte, das
man anders hätte wünschen mögen. Die Natur schien
sich vorgesezt zu haben, durch ihn zu beweisen, daß
die Weisheit nicht weniger ein Geschenke von ihr sey,
als der Genie; und daß, wofern es gleich der Kunst
nicht unmöglich ist, ein schlimmes Naturell zu verbes-
sern, und aus einem Silen, so der Himmel will, ei-
nen Socrates zu machen, (ein Triumph, den die Kunst
gleichwol sehr selten davon trägt,) es dennoch der Na-
tur allein zukomme, diese glükliche Temperatur der
Elemente, woraus der Mensch zusammengesezt ist,
hervorzubringen, welche, unter einem Zusammenfluß
eben so glüklicher Umstände, endlich zu dieser vollkomm-
nen Harmonie aller Kräfte und Bewegungen des Men-
schen, worinn Weisheit und Tugend in Einem Punct
zusammenfliessen, erhöht werden kann. Archytas hatte
niemalen weder eine glühende Einbildungs-Kraft, noch
heftige Leidenschaften gehabt; eine gewisse Stärke, wel-
che den Mechanismus seines Kopfs und seines Herzens
characterisierte, hatte von seiner Jugend an die Wür-
kung der Gegenstände auf seine Seele gemässiget; die
Eindrüke, die er von ihnen bekam, waren deutlich
und nett genug, um seinen Verstand mit wahren Bil-
dern zu erfüllen, und die Verwirrung zu verhindern,
welche in dem Gehirne derjenigen zu herrschen pflegt,
deren allzuschlaffe Fibern nur schwache und matte Ein-

drüke

Agathon.
thums uͤberfuͤhrt worden waͤre ‒‒ einen wahrhaftig
weiſen Mann, einen Mann, der nichts zu ſeyn ſchei-
nen wollte, als was er wuͤrklich war, und an welchem
das ſcharfſichtigſte Auge nichts entdeken konnte, das
man anders haͤtte wuͤnſchen moͤgen. Die Natur ſchien
ſich vorgeſezt zu haben, durch ihn zu beweiſen, daß
die Weisheit nicht weniger ein Geſchenke von ihr ſey,
als der Genie; und daß, wofern es gleich der Kunſt
nicht unmoͤglich iſt, ein ſchlimmes Naturell zu verbeſ-
ſern, und aus einem Silen, ſo der Himmel will, ei-
nen Socrates zu machen, (ein Triumph, den die Kunſt
gleichwol ſehr ſelten davon traͤgt,) es dennoch der Na-
tur allein zukomme, dieſe gluͤkliche Temperatur der
Elemente, woraus der Menſch zuſammengeſezt iſt,
hervorzubringen, welche, unter einem Zuſammenfluß
eben ſo gluͤklicher Umſtaͤnde, endlich zu dieſer vollkomm-
nen Harmonie aller Kraͤfte und Bewegungen des Men-
ſchen, worinn Weisheit und Tugend in Einem Punct
zuſammenflieſſen, erhoͤht werden kann. Archytas hatte
niemalen weder eine gluͤhende Einbildungs-Kraft, noch
heftige Leidenſchaften gehabt; eine gewiſſe Staͤrke, wel-
che den Mechaniſmus ſeines Kopfs und ſeines Herzens
characteriſierte, hatte von ſeiner Jugend an die Wuͤr-
kung der Gegenſtaͤnde auf ſeine Seele gemaͤſſiget; die
Eindruͤke, die er von ihnen bekam, waren deutlich
und nett genug, um ſeinen Verſtand mit wahren Bil-
dern zu erfuͤllen, und die Verwirrung zu verhindern,
welche in dem Gehirne derjenigen zu herrſchen pflegt,
deren allzuſchlaffe Fibern nur ſchwache und matte Ein-

druͤke
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0310" n="308"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
thums u&#x0364;berfu&#x0364;hrt worden wa&#x0364;re &#x2012;&#x2012; einen wahrhaftig<lb/>
wei&#x017F;en Mann, einen Mann, der nichts zu &#x017F;eyn &#x017F;chei-<lb/>
nen wollte, als was er wu&#x0364;rklich war, und an welchem<lb/>
das &#x017F;charf&#x017F;ichtig&#x017F;te Auge nichts entdeken konnte, das<lb/>
man anders ha&#x0364;tte wu&#x0364;n&#x017F;chen mo&#x0364;gen. Die Natur &#x017F;chien<lb/>
&#x017F;ich vorge&#x017F;ezt zu haben, durch ihn zu bewei&#x017F;en, daß<lb/>
die Weisheit nicht weniger ein Ge&#x017F;chenke von ihr &#x017F;ey,<lb/>
als der Genie; und daß, wofern es gleich der Kun&#x017F;t<lb/>
nicht unmo&#x0364;glich i&#x017F;t, ein &#x017F;chlimmes Naturell zu verbe&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ern, und aus einem Silen, &#x017F;o der Himmel will, ei-<lb/>
nen Socrates zu machen, (ein Triumph, den die Kun&#x017F;t<lb/>
gleichwol &#x017F;ehr &#x017F;elten davon tra&#x0364;gt,) es dennoch der Na-<lb/>
tur allein zukomme, die&#x017F;e glu&#x0364;kliche Temperatur der<lb/>
Elemente, woraus der Men&#x017F;ch zu&#x017F;ammenge&#x017F;ezt i&#x017F;t,<lb/>
hervorzubringen, welche, unter einem Zu&#x017F;ammenfluß<lb/>
eben &#x017F;o glu&#x0364;klicher Um&#x017F;ta&#x0364;nde, endlich zu die&#x017F;er vollkomm-<lb/>
nen Harmonie aller Kra&#x0364;fte und Bewegungen des Men-<lb/>
&#x017F;chen, worinn Weisheit und Tugend in Einem Punct<lb/>
zu&#x017F;ammenflie&#x017F;&#x017F;en, erho&#x0364;ht werden kann. Archytas hatte<lb/>
niemalen weder eine glu&#x0364;hende Einbildungs-Kraft, noch<lb/>
heftige Leiden&#x017F;chaften gehabt; eine gewi&#x017F;&#x017F;e Sta&#x0364;rke, wel-<lb/>
che den Mechani&#x017F;mus &#x017F;eines Kopfs und &#x017F;eines Herzens<lb/>
characteri&#x017F;ierte, hatte von &#x017F;einer Jugend an die Wu&#x0364;r-<lb/>
kung der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde auf &#x017F;eine Seele gema&#x0364;&#x017F;&#x017F;iget; die<lb/>
Eindru&#x0364;ke, die er von ihnen bekam, waren deutlich<lb/>
und nett genug, um &#x017F;einen Ver&#x017F;tand mit wahren Bil-<lb/>
dern zu erfu&#x0364;llen, und die Verwirrung zu verhindern,<lb/>
welche in dem Gehirne derjenigen zu herr&#x017F;chen pflegt,<lb/>
deren allzu&#x017F;chlaffe Fibern nur &#x017F;chwache und matte Ein-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dru&#x0364;ke</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[308/0310] Agathon. thums uͤberfuͤhrt worden waͤre ‒‒ einen wahrhaftig weiſen Mann, einen Mann, der nichts zu ſeyn ſchei- nen wollte, als was er wuͤrklich war, und an welchem das ſcharfſichtigſte Auge nichts entdeken konnte, das man anders haͤtte wuͤnſchen moͤgen. Die Natur ſchien ſich vorgeſezt zu haben, durch ihn zu beweiſen, daß die Weisheit nicht weniger ein Geſchenke von ihr ſey, als der Genie; und daß, wofern es gleich der Kunſt nicht unmoͤglich iſt, ein ſchlimmes Naturell zu verbeſ- ſern, und aus einem Silen, ſo der Himmel will, ei- nen Socrates zu machen, (ein Triumph, den die Kunſt gleichwol ſehr ſelten davon traͤgt,) es dennoch der Na- tur allein zukomme, dieſe gluͤkliche Temperatur der Elemente, woraus der Menſch zuſammengeſezt iſt, hervorzubringen, welche, unter einem Zuſammenfluß eben ſo gluͤklicher Umſtaͤnde, endlich zu dieſer vollkomm- nen Harmonie aller Kraͤfte und Bewegungen des Men- ſchen, worinn Weisheit und Tugend in Einem Punct zuſammenflieſſen, erhoͤht werden kann. Archytas hatte niemalen weder eine gluͤhende Einbildungs-Kraft, noch heftige Leidenſchaften gehabt; eine gewiſſe Staͤrke, wel- che den Mechaniſmus ſeines Kopfs und ſeines Herzens characteriſierte, hatte von ſeiner Jugend an die Wuͤr- kung der Gegenſtaͤnde auf ſeine Seele gemaͤſſiget; die Eindruͤke, die er von ihnen bekam, waren deutlich und nett genug, um ſeinen Verſtand mit wahren Bil- dern zu erfuͤllen, und die Verwirrung zu verhindern, welche in dem Gehirne derjenigen zu herrſchen pflegt, deren allzuſchlaffe Fibern nur ſchwache und matte Ein- druͤke

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/310
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/310>, abgerufen am 24.11.2024.