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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.
ihn bey seiner Flucht aus Smyrna erhizt gesehen haben,
vollends verzehren mußten. Der Gedanke für das Glük
der Menschen, für das allgemeine Beste der ganzen Gat-
tung zu arbeiten, verliehrt seinen mächtigen Reiz, so-
bald wir klein von dieser Gattung denken. Die Grösse
dieses Vorhabens ist es eigentlich, was den Reiz dersel-
ben ausmacht -- und diese schrumpft natürlicher Weise
sehr zusammen, sobald wir uns die Menschen als eine
Heerde von Creaturen vorstellen, deren grössester Theil
seine ganze Glükseligkeit, den lezten Endzwek aller seiner
Bemühungen auf seine körperliche Bedürfnisse einschränkt,
und dabey dumm genug ist, durch eine niederträchtige
Unterwürfigkeit unter eine kleine Anzahl der schlimmsten
seiner Gattung, sich fast immer in den Fall zu sezen,
auch dieser bloß thierischen Glükseligkeit nur selten oder
auf kurze Zeit, bittweise oder verstohlner Weise habhaft
zu werden. Jedes Thier sucht seine Nahrung -- gräbt
sich eine Höhle, oder baut sich ein Nest -- begattet
sich -- schläft -- und stirbt. Was thut der grösseste Theil
der Menschen mehr? Das beträchtlichste Geschäfte, das
sie von den übrigen Thieren voraus haben, ist die Sorge
sich zu bekleiden, welche die hauptsächlichste Beschäf-
tigung vieler Millionen ausmacht. Und ich sollte,
(sagte Agathon in einer von seinen schlimmsten Launen
zu sich selbst) ich sollte meine Ruhe, meine Vergnügun-
gen, meine Kräfte, mein Daseyn der Sorge aufopfern,
damit irgend eine besondere Heerde dieser edeln Crea-
turen besser esse, schöner wohne, sich häuffiger begatte,
sich besser kleide, und weicher schlafe als sie zuvor tha-

ten,
S 3

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
ihn bey ſeiner Flucht aus Smyrna erhizt geſehen haben,
vollends verzehren mußten. Der Gedanke fuͤr das Gluͤk
der Menſchen, fuͤr das allgemeine Beſte der ganzen Gat-
tung zu arbeiten, verliehrt ſeinen maͤchtigen Reiz, ſo-
bald wir klein von dieſer Gattung denken. Die Groͤſſe
dieſes Vorhabens iſt es eigentlich, was den Reiz derſel-
ben ausmacht ‒‒ und dieſe ſchrumpft natuͤrlicher Weiſe
ſehr zuſammen, ſobald wir uns die Menſchen als eine
Heerde von Creaturen vorſtellen, deren groͤſſeſter Theil
ſeine ganze Gluͤkſeligkeit, den lezten Endzwek aller ſeiner
Bemuͤhungen auf ſeine koͤrperliche Beduͤrfniſſe einſchraͤnkt,
und dabey dumm genug iſt, durch eine niedertraͤchtige
Unterwuͤrfigkeit unter eine kleine Anzahl der ſchlimmſten
ſeiner Gattung, ſich faſt immer in den Fall zu ſezen,
auch dieſer bloß thieriſchen Gluͤkſeligkeit nur ſelten oder
auf kurze Zeit, bittweiſe oder verſtohlner Weiſe habhaft
zu werden. Jedes Thier ſucht ſeine Nahrung ‒‒ graͤbt
ſich eine Hoͤhle, oder baut ſich ein Neſt ‒‒ begattet
ſich ‒‒ ſchlaͤft ‒‒ und ſtirbt. Was thut der groͤſſeſte Theil
der Menſchen mehr? Das betraͤchtlichſte Geſchaͤfte, das
ſie von den uͤbrigen Thieren voraus haben, iſt die Sorge
ſich zu bekleiden, welche die hauptſaͤchlichſte Beſchaͤf-
tigung vieler Millionen ausmacht. Und ich ſollte,
(ſagte Agathon in einer von ſeinen ſchlimmſten Launen
zu ſich ſelbſt) ich ſollte meine Ruhe, meine Vergnuͤgun-
gen, meine Kraͤfte, mein Daſeyn der Sorge aufopfern,
damit irgend eine beſondere Heerde dieſer edeln Crea-
turen beſſer eſſe, ſchoͤner wohne, ſich haͤuffiger begatte,
ſich beſſer kleide, und weicher ſchlafe als ſie zuvor tha-

ten,
S 3
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[277/0279] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. ihn bey ſeiner Flucht aus Smyrna erhizt geſehen haben, vollends verzehren mußten. Der Gedanke fuͤr das Gluͤk der Menſchen, fuͤr das allgemeine Beſte der ganzen Gat- tung zu arbeiten, verliehrt ſeinen maͤchtigen Reiz, ſo- bald wir klein von dieſer Gattung denken. Die Groͤſſe dieſes Vorhabens iſt es eigentlich, was den Reiz derſel- ben ausmacht ‒‒ und dieſe ſchrumpft natuͤrlicher Weiſe ſehr zuſammen, ſobald wir uns die Menſchen als eine Heerde von Creaturen vorſtellen, deren groͤſſeſter Theil ſeine ganze Gluͤkſeligkeit, den lezten Endzwek aller ſeiner Bemuͤhungen auf ſeine koͤrperliche Beduͤrfniſſe einſchraͤnkt, und dabey dumm genug iſt, durch eine niedertraͤchtige Unterwuͤrfigkeit unter eine kleine Anzahl der ſchlimmſten ſeiner Gattung, ſich faſt immer in den Fall zu ſezen, auch dieſer bloß thieriſchen Gluͤkſeligkeit nur ſelten oder auf kurze Zeit, bittweiſe oder verſtohlner Weiſe habhaft zu werden. Jedes Thier ſucht ſeine Nahrung ‒‒ graͤbt ſich eine Hoͤhle, oder baut ſich ein Neſt ‒‒ begattet ſich ‒‒ ſchlaͤft ‒‒ und ſtirbt. Was thut der groͤſſeſte Theil der Menſchen mehr? Das betraͤchtlichſte Geſchaͤfte, das ſie von den uͤbrigen Thieren voraus haben, iſt die Sorge ſich zu bekleiden, welche die hauptſaͤchlichſte Beſchaͤf- tigung vieler Millionen ausmacht. Und ich ſollte, (ſagte Agathon in einer von ſeinen ſchlimmſten Launen zu ſich ſelbſt) ich ſollte meine Ruhe, meine Vergnuͤgun- gen, meine Kraͤfte, mein Daſeyn der Sorge aufopfern, damit irgend eine beſondere Heerde dieſer edeln Crea- turen beſſer eſſe, ſchoͤner wohne, ſich haͤuffiger begatte, ſich beſſer kleide, und weicher ſchlafe als ſie zuvor tha- ten, S 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/279>, abgerufen am 26.11.2024.