Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite
Agathon.

Diese Betrachtungen führten unsern Helden bis an
die äusserste Spize des tiefen Abgrunds, der zwischen
dem System der Tugend, und dem System des Hip-
pias liegt; aber der erste schüchterne Blik, den er hin-
unter wagte, war genug, ihn mit Entsezen zurükfahren
zu machen. Die Begriffe des wesentlichen Unterschieds
zwischen Recht und Unrecht, und die Jdeen des sittli-
chen Schönen, hatten zu tiefe Wurzeln in seiner Seele
gefaßt, waren zu genau mit den zartesten Fibern der-
selben verflochten und zusammengewachsen, als daß es
möglich gewesen wäre, daß irgend eine zufällige Ur-
sache, so stark sie immer auf seine Einbildung und auf
seine Leidenschaften würken mochte, sie hätte ausreuten
können. Die Tugend hatte bey ihm keinen andere Sach-
walter nöthig als sein eignes Herz. Jn eben dem
Augenblik, da eine nur allzugegründete Misanthropie
ihm die Menschen in einem verächtlichen Lichte, und
vielleicht wie gewisse Spiegel, um ein gutes Theil häß-
licher zeigte, als sie würklich sind, fühlte er mit der
vollkommensten Gewißheit, daß er, um die Crone des
Monarchen von Persien selbst, weder Hippias noch Phi-
listus seyn wollte; und daß er, sobald er sich wieder in
die nehmliche Umstände gesezt sähe, eben so handeln
würde, wie er gehandelt hatte, ohne sich durch irgend
eine Folge davon erschreken zu lassen. Hingegen konnte
es nicht wol anders seyn, als daß diese Betrachtungen,
denen er sich seit seinem Fall, und sonderheitlich wäh-
rend seiner Gefangenschaft, fast gänzlich überließ, den
Ueberrest des moralischen Enthusiasmus, von dem wir

ihn
Agathon.

Dieſe Betrachtungen fuͤhrten unſern Helden bis an
die aͤuſſerſte Spize des tiefen Abgrunds, der zwiſchen
dem Syſtem der Tugend, und dem Syſtem des Hip-
pias liegt; aber der erſte ſchuͤchterne Blik, den er hin-
unter wagte, war genug, ihn mit Entſezen zuruͤkfahren
zu machen. Die Begriffe des weſentlichen Unterſchieds
zwiſchen Recht und Unrecht, und die Jdeen des ſittli-
chen Schoͤnen, hatten zu tiefe Wurzeln in ſeiner Seele
gefaßt, waren zu genau mit den zarteſten Fibern der-
ſelben verflochten und zuſammengewachſen, als daß es
moͤglich geweſen waͤre, daß irgend eine zufaͤllige Ur-
ſache, ſo ſtark ſie immer auf ſeine Einbildung und auf
ſeine Leidenſchaften wuͤrken mochte, ſie haͤtte ausreuten
koͤnnen. Die Tugend hatte bey ihm keinen andere Sach-
walter noͤthig als ſein eignes Herz. Jn eben dem
Augenblik, da eine nur allzugegruͤndete Miſanthropie
ihm die Menſchen in einem veraͤchtlichen Lichte, und
vielleicht wie gewiſſe Spiegel, um ein gutes Theil haͤß-
licher zeigte, als ſie wuͤrklich ſind, fuͤhlte er mit der
vollkommenſten Gewißheit, daß er, um die Crone des
Monarchen von Perſien ſelbſt, weder Hippias noch Phi-
liſtus ſeyn wollte; und daß er, ſobald er ſich wieder in
die nehmliche Umſtaͤnde geſezt ſaͤhe, eben ſo handeln
wuͤrde, wie er gehandelt hatte, ohne ſich durch irgend
eine Folge davon erſchreken zu laſſen. Hingegen konnte
es nicht wol anders ſeyn, als daß dieſe Betrachtungen,
denen er ſich ſeit ſeinem Fall, und ſonderheitlich waͤh-
rend ſeiner Gefangenſchaft, faſt gaͤnzlich uͤberließ, den
Ueberreſt des moraliſchen Enthuſiaſmus, von dem wir

ihn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0278" n="276"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Agathon.</hi> </hi> </fw><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Betrachtungen fu&#x0364;hrten un&#x017F;ern Helden bis an<lb/>
die a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;te Spize des tiefen Abgrunds, der zwi&#x017F;chen<lb/>
dem Sy&#x017F;tem der Tugend, und dem Sy&#x017F;tem des Hip-<lb/>
pias liegt; aber der er&#x017F;te &#x017F;chu&#x0364;chterne Blik, den er hin-<lb/>
unter wagte, war genug, ihn mit Ent&#x017F;ezen zuru&#x0364;kfahren<lb/>
zu machen. Die Begriffe des we&#x017F;entlichen Unter&#x017F;chieds<lb/>
zwi&#x017F;chen Recht und Unrecht, und die Jdeen des &#x017F;ittli-<lb/>
chen Scho&#x0364;nen, hatten zu tiefe Wurzeln in &#x017F;einer Seele<lb/>
gefaßt, waren zu genau mit den zarte&#x017F;ten Fibern der-<lb/>
&#x017F;elben verflochten und zu&#x017F;ammengewach&#x017F;en, als daß es<lb/>
mo&#x0364;glich gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, daß irgend eine zufa&#x0364;llige Ur-<lb/>
&#x017F;ache, &#x017F;o &#x017F;tark &#x017F;ie immer auf &#x017F;eine Einbildung und auf<lb/>
&#x017F;eine Leiden&#x017F;chaften wu&#x0364;rken mochte, &#x017F;ie ha&#x0364;tte ausreuten<lb/>
ko&#x0364;nnen. Die Tugend hatte bey ihm keinen andere Sach-<lb/>
walter no&#x0364;thig als &#x017F;ein eignes Herz. Jn eben dem<lb/>
Augenblik, da eine nur allzugegru&#x0364;ndete Mi&#x017F;anthropie<lb/>
ihm die Men&#x017F;chen in einem vera&#x0364;chtlichen Lichte, und<lb/>
vielleicht wie gewi&#x017F;&#x017F;e Spiegel, um ein gutes Theil ha&#x0364;ß-<lb/>
licher zeigte, als &#x017F;ie wu&#x0364;rklich &#x017F;ind, fu&#x0364;hlte er mit der<lb/>
vollkommen&#x017F;ten Gewißheit, daß er, um die Crone des<lb/>
Monarchen von Per&#x017F;ien &#x017F;elb&#x017F;t, weder Hippias noch Phi-<lb/>
li&#x017F;tus &#x017F;eyn wollte; und daß er, &#x017F;obald er &#x017F;ich wieder in<lb/>
die nehmliche Um&#x017F;ta&#x0364;nde ge&#x017F;ezt &#x017F;a&#x0364;he, eben &#x017F;o handeln<lb/>
wu&#x0364;rde, wie er gehandelt hatte, ohne &#x017F;ich durch irgend<lb/>
eine Folge davon er&#x017F;chreken zu la&#x017F;&#x017F;en. Hingegen konnte<lb/>
es nicht wol anders &#x017F;eyn, als daß die&#x017F;e Betrachtungen,<lb/>
denen er &#x017F;ich &#x017F;eit &#x017F;einem Fall, und &#x017F;onderheitlich wa&#x0364;h-<lb/>
rend &#x017F;einer Gefangen&#x017F;chaft, fa&#x017F;t ga&#x0364;nzlich u&#x0364;berließ, den<lb/>
Ueberre&#x017F;t des morali&#x017F;chen Enthu&#x017F;ia&#x017F;mus, von dem wir<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0278] Agathon. Dieſe Betrachtungen fuͤhrten unſern Helden bis an die aͤuſſerſte Spize des tiefen Abgrunds, der zwiſchen dem Syſtem der Tugend, und dem Syſtem des Hip- pias liegt; aber der erſte ſchuͤchterne Blik, den er hin- unter wagte, war genug, ihn mit Entſezen zuruͤkfahren zu machen. Die Begriffe des weſentlichen Unterſchieds zwiſchen Recht und Unrecht, und die Jdeen des ſittli- chen Schoͤnen, hatten zu tiefe Wurzeln in ſeiner Seele gefaßt, waren zu genau mit den zarteſten Fibern der- ſelben verflochten und zuſammengewachſen, als daß es moͤglich geweſen waͤre, daß irgend eine zufaͤllige Ur- ſache, ſo ſtark ſie immer auf ſeine Einbildung und auf ſeine Leidenſchaften wuͤrken mochte, ſie haͤtte ausreuten koͤnnen. Die Tugend hatte bey ihm keinen andere Sach- walter noͤthig als ſein eignes Herz. Jn eben dem Augenblik, da eine nur allzugegruͤndete Miſanthropie ihm die Menſchen in einem veraͤchtlichen Lichte, und vielleicht wie gewiſſe Spiegel, um ein gutes Theil haͤß- licher zeigte, als ſie wuͤrklich ſind, fuͤhlte er mit der vollkommenſten Gewißheit, daß er, um die Crone des Monarchen von Perſien ſelbſt, weder Hippias noch Phi- liſtus ſeyn wollte; und daß er, ſobald er ſich wieder in die nehmliche Umſtaͤnde geſezt ſaͤhe, eben ſo handeln wuͤrde, wie er gehandelt hatte, ohne ſich durch irgend eine Folge davon erſchreken zu laſſen. Hingegen konnte es nicht wol anders ſeyn, als daß dieſe Betrachtungen, denen er ſich ſeit ſeinem Fall, und ſonderheitlich waͤh- rend ſeiner Gefangenſchaft, faſt gaͤnzlich uͤberließ, den Ueberreſt des moraliſchen Enthuſiaſmus, von dem wir ihn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/278
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/278>, abgerufen am 26.04.2024.