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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, drittes Capitel.
Drittes Capitel.
Folgen des Vorhergehenden.

Die menschliche Seele ist vielleicht keines heftigern
Schmerzens fähig, als derjenige ist, wenn wir uns ge-
nöthiget sehen, den Gegenstand unsrer zärtlichsten Ge-
sinnungen zu verachten. Alles was man davon sagen
kan ist zu schwach, die Pein auszudrüken, die durch
eine so gewaltsame Zerreissung in einem gefühlvollen Her-
zen verursacht wird. Wir wollen also lieber gestehen,
daß wir uns unvermögend finden, den Tumult der Lei-
denschaften, welche in den ersten Stunden nach einer so
grausamen Unterredung in dem Gemüthe Agathons
wüteten, abzuschildern, als durch eine frostige Beschrei-
bung zu gleicher Zeit unsre Vermessenheit und unser Un-
vermögen zu verrathen.

Das erste was er that, sobald er seiner selbst wie-
der mächtiger wurde, war, daß er alle seine Kräfte an-
strengte, sich zu überreden, daß ihn Hippias betrogen
habe. War es zuviel, das Schlimmste von einem so un-
geheuern Bösewicht zu denken, als dieser Sophist nun-
mehr in seinen Augen war? Was für eine Gültigkeit
konnte ein solcher Zeuge gegen eine Danae haben? --
Oder vielmehr, was für einen mächtigen Apologisten hat-
test du, schöne Danae, in dem Herzen deines Agathon!
Was hätte Hyperides selbst, ob er gleich beredt genug

war,
B 5
Achtes Buch, drittes Capitel.
Drittes Capitel.
Folgen des Vorhergehenden.

Die menſchliche Seele iſt vielleicht keines heftigern
Schmerzens faͤhig, als derjenige iſt, wenn wir uns ge-
noͤthiget ſehen, den Gegenſtand unſrer zaͤrtlichſten Ge-
ſinnungen zu verachten. Alles was man davon ſagen
kan iſt zu ſchwach, die Pein auszudruͤken, die durch
eine ſo gewaltſame Zerreiſſung in einem gefuͤhlvollen Her-
zen verurſacht wird. Wir wollen alſo lieber geſtehen,
daß wir uns unvermoͤgend finden, den Tumult der Lei-
denſchaften, welche in den erſten Stunden nach einer ſo
grauſamen Unterredung in dem Gemuͤthe Agathons
wuͤteten, abzuſchildern, als durch eine froſtige Beſchrei-
bung zu gleicher Zeit unſre Vermeſſenheit und unſer Un-
vermoͤgen zu verrathen.

Das erſte was er that, ſobald er ſeiner ſelbſt wie-
der maͤchtiger wurde, war, daß er alle ſeine Kraͤfte an-
ſtrengte, ſich zu uͤberreden, daß ihn Hippias betrogen
habe. War es zuviel, das Schlimmſte von einem ſo un-
geheuern Boͤſewicht zu denken, als dieſer Sophiſt nun-
mehr in ſeinen Augen war? Was fuͤr eine Guͤltigkeit
konnte ein ſolcher Zeuge gegen eine Danae haben? —
Oder vielmehr, was fuͤr einen maͤchtigen Apologiſten hat-
teſt du, ſchoͤne Danae, in dem Herzen deines Agathon!
Was haͤtte Hyperides ſelbſt, ob er gleich beredt genug

war,
B 5
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[25/0027] Achtes Buch, drittes Capitel. Drittes Capitel. Folgen des Vorhergehenden. Die menſchliche Seele iſt vielleicht keines heftigern Schmerzens faͤhig, als derjenige iſt, wenn wir uns ge- noͤthiget ſehen, den Gegenſtand unſrer zaͤrtlichſten Ge- ſinnungen zu verachten. Alles was man davon ſagen kan iſt zu ſchwach, die Pein auszudruͤken, die durch eine ſo gewaltſame Zerreiſſung in einem gefuͤhlvollen Her- zen verurſacht wird. Wir wollen alſo lieber geſtehen, daß wir uns unvermoͤgend finden, den Tumult der Lei- denſchaften, welche in den erſten Stunden nach einer ſo grauſamen Unterredung in dem Gemuͤthe Agathons wuͤteten, abzuſchildern, als durch eine froſtige Beſchrei- bung zu gleicher Zeit unſre Vermeſſenheit und unſer Un- vermoͤgen zu verrathen. Das erſte was er that, ſobald er ſeiner ſelbſt wie- der maͤchtiger wurde, war, daß er alle ſeine Kraͤfte an- ſtrengte, ſich zu uͤberreden, daß ihn Hippias betrogen habe. War es zuviel, das Schlimmſte von einem ſo un- geheuern Boͤſewicht zu denken, als dieſer Sophiſt nun- mehr in ſeinen Augen war? Was fuͤr eine Guͤltigkeit konnte ein ſolcher Zeuge gegen eine Danae haben? — Oder vielmehr, was fuͤr einen maͤchtigen Apologiſten hat- teſt du, ſchoͤne Danae, in dem Herzen deines Agathon! Was haͤtte Hyperides ſelbſt, ob er gleich beredt genug war, B 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/27>, abgerufen am 28.03.2024.