Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Agathon. keit wiederfahren zu lassen; und ihre Eigenliebe ist sosehr dabey interessirt, daß sie die Partheylichkeit für einander sehr weit treiben können, ohne sich dadurch be- sonderer Absichten verdächtig zu machen. Ein so unedler Verdacht konnte ohnehin nicht auf die erhabene Cleonissa fallen; indessen war doch nichts natürlicher, als die Erwartung, daß sie in unserm Helden eben diesen, wo nicht einen noch höhern Grad der Bewunderung erweken werde, als sie für ihn empfand. Diese Erwartung verwandelte sich eben so natürlich in ein mit Unmuth vermischtes Erstaunen, da sie sich darinn betrogen sah; und was konnte aus diesem Erstaunen anders werden, als eine heftige Begierde, ihrer durch seine Gleichgül- tigkeit äusserst beleidigten Eigenliebe eine vollständige Genugthuung zu verschaffen? Auch wenn sie selbst gleich- gültig gewesen wäre, hätte sie mit Recht erwarten kön- nen, daß ein so feiner Kenner ihren Werth zu empfin- den, und eine Cleonissa von den kleinern Sternen, wel- chen nur in ihrer Abwesenheit zu glänzen erlaubt war, zu unterscheiden wissen werde. Wie sehr mußte sie sich also beleidiget halten, da sie mit diesem edeln Enthu- siasmus, womit die privilegirte Seelen sich über die kleinen Bedenklichkeiten gewöhnlicher Leute hinwegsezen, ihm entgegengeflogen war, und die Beweise ihrer sympathetischen Hochachtung nicht so lange zurükzuhal- ten gewürdiget hatte, bis sie von der seinigen überzeugt worden wäre? Da es nur von ihrer Eigenliebe abhieng, die Grösse des Unrechts nach der Empfindung ihres eignen Werths zu bestimmen; so war die Rache, welche sie
Agathon. keit wiederfahren zu laſſen; und ihre Eigenliebe iſt ſoſehr dabey intereſſirt, daß ſie die Partheylichkeit fuͤr einander ſehr weit treiben koͤnnen, ohne ſich dadurch be- ſonderer Abſichten verdaͤchtig zu machen. Ein ſo unedler Verdacht konnte ohnehin nicht auf die erhabene Cleoniſſa fallen; indeſſen war doch nichts natuͤrlicher, als die Erwartung, daß ſie in unſerm Helden eben dieſen, wo nicht einen noch hoͤhern Grad der Bewunderung erweken werde, als ſie fuͤr ihn empfand. Dieſe Erwartung verwandelte ſich eben ſo natuͤrlich in ein mit Unmuth vermiſchtes Erſtaunen, da ſie ſich darinn betrogen ſah; und was konnte aus dieſem Erſtaunen anders werden, als eine heftige Begierde, ihrer durch ſeine Gleichguͤl- tigkeit aͤuſſerſt beleidigten Eigenliebe eine vollſtaͤndige Genugthuung zu verſchaffen? Auch wenn ſie ſelbſt gleich- guͤltig geweſen waͤre, haͤtte ſie mit Recht erwarten koͤn- nen, daß ein ſo feiner Kenner ihren Werth zu empfin- den, und eine Cleoniſſa von den kleinern Sternen, wel- chen nur in ihrer Abweſenheit zu glaͤnzen erlaubt war, zu unterſcheiden wiſſen werde. Wie ſehr mußte ſie ſich alſo beleidiget halten, da ſie mit dieſem edeln Enthu- ſiasmus, womit die privilegirte Seelen ſich uͤber die kleinen Bedenklichkeiten gewoͤhnlicher Leute hinwegſezen, ihm entgegengeflogen war, und die Beweiſe ihrer ſympathetiſchen Hochachtung nicht ſo lange zuruͤkzuhal- ten gewuͤrdiget hatte, bis ſie von der ſeinigen uͤberzeugt worden waͤre? Da es nur von ihrer Eigenliebe abhieng, die Groͤſſe des Unrechts nach der Empfindung ihres eignen Werths zu beſtimmen; ſo war die Rache, welche ſie
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0228" n="226"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/> keit wiederfahren zu laſſen; und ihre Eigenliebe iſt ſo<lb/> ſehr dabey intereſſirt, daß ſie die Partheylichkeit fuͤr<lb/> einander ſehr weit treiben koͤnnen, ohne ſich dadurch be-<lb/> ſonderer Abſichten verdaͤchtig zu machen. Ein ſo unedler<lb/> Verdacht konnte ohnehin nicht auf die erhabene Cleoniſſa<lb/> fallen; indeſſen war doch nichts natuͤrlicher, als die<lb/> Erwartung, daß ſie in unſerm Helden eben dieſen, wo<lb/> nicht einen noch hoͤhern Grad der Bewunderung erweken<lb/> werde, als ſie fuͤr ihn empfand. Dieſe Erwartung<lb/> verwandelte ſich eben ſo natuͤrlich in ein mit Unmuth<lb/> vermiſchtes Erſtaunen, da ſie ſich darinn betrogen ſah;<lb/> und was konnte aus dieſem Erſtaunen anders werden,<lb/> als eine heftige Begierde, ihrer durch ſeine Gleichguͤl-<lb/> tigkeit aͤuſſerſt beleidigten Eigenliebe eine vollſtaͤndige<lb/> Genugthuung zu verſchaffen? Auch wenn ſie ſelbſt gleich-<lb/> guͤltig geweſen waͤre, haͤtte ſie mit Recht erwarten koͤn-<lb/> nen, daß ein ſo feiner Kenner ihren Werth zu empfin-<lb/> den, und eine Cleoniſſa von den kleinern Sternen, wel-<lb/> chen nur in ihrer Abweſenheit zu glaͤnzen erlaubt war,<lb/> zu unterſcheiden wiſſen werde. Wie ſehr mußte ſie ſich<lb/> alſo beleidiget halten, da ſie mit dieſem edeln Enthu-<lb/> ſiasmus, womit die privilegirte Seelen ſich uͤber die<lb/> kleinen Bedenklichkeiten gewoͤhnlicher Leute hinwegſezen,<lb/> ihm entgegengeflogen war, und die Beweiſe ihrer<lb/> ſympathetiſchen Hochachtung nicht ſo lange zuruͤkzuhal-<lb/> ten gewuͤrdiget hatte, bis ſie von der ſeinigen uͤberzeugt<lb/> worden waͤre? Da es nur von ihrer Eigenliebe abhieng,<lb/> die Groͤſſe des Unrechts nach der Empfindung ihres<lb/> eignen Werths zu beſtimmen; ſo war die Rache, welche<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſie</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0228]
Agathon.
keit wiederfahren zu laſſen; und ihre Eigenliebe iſt ſo
ſehr dabey intereſſirt, daß ſie die Partheylichkeit fuͤr
einander ſehr weit treiben koͤnnen, ohne ſich dadurch be-
ſonderer Abſichten verdaͤchtig zu machen. Ein ſo unedler
Verdacht konnte ohnehin nicht auf die erhabene Cleoniſſa
fallen; indeſſen war doch nichts natuͤrlicher, als die
Erwartung, daß ſie in unſerm Helden eben dieſen, wo
nicht einen noch hoͤhern Grad der Bewunderung erweken
werde, als ſie fuͤr ihn empfand. Dieſe Erwartung
verwandelte ſich eben ſo natuͤrlich in ein mit Unmuth
vermiſchtes Erſtaunen, da ſie ſich darinn betrogen ſah;
und was konnte aus dieſem Erſtaunen anders werden,
als eine heftige Begierde, ihrer durch ſeine Gleichguͤl-
tigkeit aͤuſſerſt beleidigten Eigenliebe eine vollſtaͤndige
Genugthuung zu verſchaffen? Auch wenn ſie ſelbſt gleich-
guͤltig geweſen waͤre, haͤtte ſie mit Recht erwarten koͤn-
nen, daß ein ſo feiner Kenner ihren Werth zu empfin-
den, und eine Cleoniſſa von den kleinern Sternen, wel-
chen nur in ihrer Abweſenheit zu glaͤnzen erlaubt war,
zu unterſcheiden wiſſen werde. Wie ſehr mußte ſie ſich
alſo beleidiget halten, da ſie mit dieſem edeln Enthu-
ſiasmus, womit die privilegirte Seelen ſich uͤber die
kleinen Bedenklichkeiten gewoͤhnlicher Leute hinwegſezen,
ihm entgegengeflogen war, und die Beweiſe ihrer
ſympathetiſchen Hochachtung nicht ſo lange zuruͤkzuhal-
ten gewuͤrdiget hatte, bis ſie von der ſeinigen uͤberzeugt
worden waͤre? Da es nur von ihrer Eigenliebe abhieng,
die Groͤſſe des Unrechts nach der Empfindung ihres
eignen Werths zu beſtimmen; ſo war die Rache, welche
ſie
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |