Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
eine lange Reyhe von Schlüssen auf die Vermuthung
hätten bringen können, daß es nicht unmöglich seyn
würde, diese Göttin zu humanisiren. Aber der gute
Plato hatte damals schon über sechzig Jahre, und machte
keine solche Beobachtungen mehr. Cleonissa blieb also
in dem Ansehen eines lebendigen Beweises des Platoni-
schen Lehrsazes, daß die äusserliche Schönheit ein Wi-
derschein der intellectualischen Schönheit des Geistes sey;
das Vorurtheil für ihre Tugend hielt dem Eindruk,
welchen ihre Reizungen hätten machen können, das
Gleichgewicht; und sie hatte das Vergnügen, die voll-
kommne Gleichgültigkeit, welche Dionys für sie behielt,
der Weisheit ihres Betragens zu zuschreiben, und sich
dadurch ein neues Verdienst bey den Princessinnen zu
machen.

Aber -- o! wie wol läßt sich jener Solonische Aus-
spruch, daß man niemand vor seinem Ende glüklich
preisen solle, auch auf die Tugend der Heldinnen an-
wenden! Cleonissa sah den Agathon, und -- hörte in
diesem Augenblik auf Cleonissa zu seyn -- Nein, das
eben nicht; ob es gleich nach dem Platonischen Sprach-
gebrauch richtig gesprochen wäre; aber sie bewies,
daß die Princessinnen, und sie selbst, und ihr Gemahl,
und der Hof, und die ganze Welt, den göttlichen Plato
mit eingeschlossen, sich sehr geirret hatten, sie für etwas
anders zu halten als sie war, und als sie einem jeden
mit Vorurtheilen unbefangenen Beobachter, einem Ari-
stipp zum Exempel, in der ersten Stunde zu seyn scheinen
mußte.

Sich

Agathon.
eine lange Reyhe von Schluͤſſen auf die Vermuthung
haͤtten bringen koͤnnen, daß es nicht unmoͤglich ſeyn
wuͤrde, dieſe Goͤttin zu humaniſiren. Aber der gute
Plato hatte damals ſchon uͤber ſechzig Jahre, und machte
keine ſolche Beobachtungen mehr. Cleoniſſa blieb alſo
in dem Anſehen eines lebendigen Beweiſes des Platoni-
ſchen Lehrſazes, daß die aͤuſſerliche Schoͤnheit ein Wi-
derſchein der intellectualiſchen Schoͤnheit des Geiſtes ſey;
das Vorurtheil fuͤr ihre Tugend hielt dem Eindruk,
welchen ihre Reizungen haͤtten machen koͤnnen, das
Gleichgewicht; und ſie hatte das Vergnuͤgen, die voll-
kommne Gleichguͤltigkeit, welche Dionys fuͤr ſie behielt,
der Weisheit ihres Betragens zu zuſchreiben, und ſich
dadurch ein neues Verdienſt bey den Princeſſinnen zu
machen.

Aber ‒‒ o! wie wol laͤßt ſich jener Soloniſche Aus-
ſpruch, daß man niemand vor ſeinem Ende gluͤklich
preiſen ſolle, auch auf die Tugend der Heldinnen an-
wenden! Cleoniſſa ſah den Agathon, und ‒‒ hoͤrte in
dieſem Augenblik auf Cleoniſſa zu ſeyn ‒‒ Nein, das
eben nicht; ob es gleich nach dem Platoniſchen Sprach-
gebrauch richtig geſprochen waͤre; aber ſie bewies,
daß die Princeſſinnen, und ſie ſelbſt, und ihr Gemahl,
und der Hof, und die ganze Welt, den goͤttlichen Plato
mit eingeſchloſſen, ſich ſehr geirret hatten, ſie fuͤr etwas
anders zu halten als ſie war, und als ſie einem jeden
mit Vorurtheilen unbefangenen Beobachter, einem Ari-
ſtipp zum Exempel, in der erſten Stunde zu ſeyn ſcheinen
mußte.

Sich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0226" n="224"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
eine lange Reyhe von Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auf die Vermuthung<lb/>
ha&#x0364;tten bringen ko&#x0364;nnen, daß es nicht unmo&#x0364;glich &#x017F;eyn<lb/>
wu&#x0364;rde, die&#x017F;e Go&#x0364;ttin zu humani&#x017F;iren. Aber der gute<lb/>
Plato hatte damals &#x017F;chon u&#x0364;ber &#x017F;echzig Jahre, und machte<lb/>
keine &#x017F;olche Beobachtungen mehr. Cleoni&#x017F;&#x017F;a blieb al&#x017F;o<lb/>
in dem An&#x017F;ehen eines lebendigen Bewei&#x017F;es des Platoni-<lb/>
&#x017F;chen Lehr&#x017F;azes, daß die a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erliche Scho&#x0364;nheit ein Wi-<lb/>
der&#x017F;chein der intellectuali&#x017F;chen Scho&#x0364;nheit des Gei&#x017F;tes &#x017F;ey;<lb/>
das Vorurtheil fu&#x0364;r ihre Tugend hielt dem Eindruk,<lb/>
welchen ihre Reizungen ha&#x0364;tten machen ko&#x0364;nnen, das<lb/>
Gleichgewicht; und &#x017F;ie hatte das Vergnu&#x0364;gen, die voll-<lb/>
kommne Gleichgu&#x0364;ltigkeit, welche Dionys fu&#x0364;r &#x017F;ie behielt,<lb/>
der Weisheit ihres Betragens zu zu&#x017F;chreiben, und &#x017F;ich<lb/>
dadurch ein neues Verdien&#x017F;t bey den Prince&#x017F;&#x017F;innen zu<lb/>
machen.</p><lb/>
            <p>Aber &#x2012;&#x2012; o! wie wol la&#x0364;ßt &#x017F;ich jener Soloni&#x017F;che Aus-<lb/>
&#x017F;pruch, daß man niemand vor &#x017F;einem Ende glu&#x0364;klich<lb/>
prei&#x017F;en &#x017F;olle, auch auf die Tugend der Heldinnen an-<lb/>
wenden! Cleoni&#x017F;&#x017F;a &#x017F;ah den Agathon, und &#x2012;&#x2012; ho&#x0364;rte in<lb/>
die&#x017F;em Augenblik auf Cleoni&#x017F;&#x017F;a zu &#x017F;eyn &#x2012;&#x2012; Nein, das<lb/>
eben nicht; ob es gleich nach dem Platoni&#x017F;chen Sprach-<lb/>
gebrauch richtig ge&#x017F;prochen wa&#x0364;re; aber &#x017F;ie bewies,<lb/>
daß die Prince&#x017F;&#x017F;innen, und &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t, und ihr Gemahl,<lb/>
und der Hof, und die ganze Welt, den go&#x0364;ttlichen Plato<lb/>
mit einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ich &#x017F;ehr geirret hatten, &#x017F;ie fu&#x0364;r etwas<lb/>
anders zu halten als &#x017F;ie war, und als &#x017F;ie einem jeden<lb/>
mit Vorurtheilen unbefangenen Beobachter, einem Ari-<lb/>
&#x017F;tipp zum Exempel, in der er&#x017F;ten Stunde zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen<lb/>
mußte.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Sich</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0226] Agathon. eine lange Reyhe von Schluͤſſen auf die Vermuthung haͤtten bringen koͤnnen, daß es nicht unmoͤglich ſeyn wuͤrde, dieſe Goͤttin zu humaniſiren. Aber der gute Plato hatte damals ſchon uͤber ſechzig Jahre, und machte keine ſolche Beobachtungen mehr. Cleoniſſa blieb alſo in dem Anſehen eines lebendigen Beweiſes des Platoni- ſchen Lehrſazes, daß die aͤuſſerliche Schoͤnheit ein Wi- derſchein der intellectualiſchen Schoͤnheit des Geiſtes ſey; das Vorurtheil fuͤr ihre Tugend hielt dem Eindruk, welchen ihre Reizungen haͤtten machen koͤnnen, das Gleichgewicht; und ſie hatte das Vergnuͤgen, die voll- kommne Gleichguͤltigkeit, welche Dionys fuͤr ſie behielt, der Weisheit ihres Betragens zu zuſchreiben, und ſich dadurch ein neues Verdienſt bey den Princeſſinnen zu machen. Aber ‒‒ o! wie wol laͤßt ſich jener Soloniſche Aus- ſpruch, daß man niemand vor ſeinem Ende gluͤklich preiſen ſolle, auch auf die Tugend der Heldinnen an- wenden! Cleoniſſa ſah den Agathon, und ‒‒ hoͤrte in dieſem Augenblik auf Cleoniſſa zu ſeyn ‒‒ Nein, das eben nicht; ob es gleich nach dem Platoniſchen Sprach- gebrauch richtig geſprochen waͤre; aber ſie bewies, daß die Princeſſinnen, und ſie ſelbſt, und ihr Gemahl, und der Hof, und die ganze Welt, den goͤttlichen Plato mit eingeſchloſſen, ſich ſehr geirret hatten, ſie fuͤr etwas anders zu halten als ſie war, und als ſie einem jeden mit Vorurtheilen unbefangenen Beobachter, einem Ari- ſtipp zum Exempel, in der erſten Stunde zu ſeyn ſcheinen mußte. Sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/226
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/226>, abgerufen am 16.04.2024.