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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, erstes Capitel.
als es diejenigen verdienten, mit denen er zu thun hatte.
Jndessen dachte er doch lange nicht mehr so erhaben
von der menschlichen Natur, als ehmals; oder richtiger
zu reden, er kannte den unendlichen Unterschied zwischen
dem metaphysischen Menschen, welchen man sich in ei-
ner speculativen Einsamkeit erträumt; dem natürlichen
Menschen, in der rohen Einfalt und Unschuld, wie er
aus den Händen der allgemeinen Mutter der Wesen her-
vorgeht; und dem gekünstelten Menschen, wie ihn die
Gesellschaft, ihre Geseze, ihre Gebräuche und Sitten,
seine Bedürfnissen, seine Abhänglichkeit, der immer
währende Contrast seiner Begierden mit seinem Unver-
mögen, seines Privat-Vortheils mit den Privat-Vor-
theilen der übrigen, die daher entspringende Noth-
wendigkeit der Verstellung, und immerwährenden Ver-
larvung seiner wahren Absichten, und tausend derglei-
chen physicalische und moralische Ursachen in unzähliche
betrügliche Gestalten ausbilden -- er kannte, sage ich,
nach allen Erfahrungen, die er schon gemacht hatte,
diesen Unterschied der Menschen von dem was sie seyn
könnten, und vielleicht seyn sollten, bereits zu gut,
um seinen Plan auf platonische Jdeen zu gründen. Er
war nicht mehr der jugendliche Enthustast, der sich ein-
bildet, daß es ihm eben so leicht seyn werde, ein gros-
ses Vorhaben auszuführen, als es zu fassen. Die
Athenienser hatten ihn auf immer von dem Vorurtheil
geheilt, daß die Tugend nur ihre eigene Stärke ge-
brauche, um über ihre Hässer obzusiegen. Er hatte ge-
lernt, wie wenig man von andern erwarten kan; wie

wenig
N 3

Zehentes Buch, erſtes Capitel.
als es diejenigen verdienten, mit denen er zu thun hatte.
Jndeſſen dachte er doch lange nicht mehr ſo erhaben
von der menſchlichen Natur, als ehmals; oder richtiger
zu reden, er kannte den unendlichen Unterſchied zwiſchen
dem metaphyſiſchen Menſchen, welchen man ſich in ei-
ner ſpeculativen Einſamkeit ertraͤumt; dem natuͤrlichen
Menſchen, in der rohen Einfalt und Unſchuld, wie er
aus den Haͤnden der allgemeinen Mutter der Weſen her-
vorgeht; und dem gekuͤnſtelten Menſchen, wie ihn die
Geſellſchaft, ihre Geſeze, ihre Gebraͤuche und Sitten,
ſeine Beduͤrfniſſen, ſeine Abhaͤnglichkeit, der immer
waͤhrende Contraſt ſeiner Begierden mit ſeinem Unver-
moͤgen, ſeines Privat-Vortheils mit den Privat-Vor-
theilen der uͤbrigen, die daher entſpringende Noth-
wendigkeit der Verſtellung, und immerwaͤhrenden Ver-
larvung ſeiner wahren Abſichten, und tauſend derglei-
chen phyſicaliſche und moraliſche Urſachen in unzaͤhliche
betruͤgliche Geſtalten ausbilden ‒‒ er kannte, ſage ich,
nach allen Erfahrungen, die er ſchon gemacht hatte,
dieſen Unterſchied der Menſchen von dem was ſie ſeyn
koͤnnten, und vielleicht ſeyn ſollten, bereits zu gut,
um ſeinen Plan auf platoniſche Jdeen zu gruͤnden. Er
war nicht mehr der jugendliche Enthuſtaſt, der ſich ein-
bildet, daß es ihm eben ſo leicht ſeyn werde, ein groſ-
ſes Vorhaben auszufuͤhren, als es zu faſſen. Die
Athenienſer hatten ihn auf immer von dem Vorurtheil
geheilt, daß die Tugend nur ihre eigene Staͤrke ge-
brauche, um uͤber ihre Haͤſſer obzuſiegen. Er hatte ge-
lernt, wie wenig man von andern erwarten kan; wie

wenig
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[197/0199] Zehentes Buch, erſtes Capitel. als es diejenigen verdienten, mit denen er zu thun hatte. Jndeſſen dachte er doch lange nicht mehr ſo erhaben von der menſchlichen Natur, als ehmals; oder richtiger zu reden, er kannte den unendlichen Unterſchied zwiſchen dem metaphyſiſchen Menſchen, welchen man ſich in ei- ner ſpeculativen Einſamkeit ertraͤumt; dem natuͤrlichen Menſchen, in der rohen Einfalt und Unſchuld, wie er aus den Haͤnden der allgemeinen Mutter der Weſen her- vorgeht; und dem gekuͤnſtelten Menſchen, wie ihn die Geſellſchaft, ihre Geſeze, ihre Gebraͤuche und Sitten, ſeine Beduͤrfniſſen, ſeine Abhaͤnglichkeit, der immer waͤhrende Contraſt ſeiner Begierden mit ſeinem Unver- moͤgen, ſeines Privat-Vortheils mit den Privat-Vor- theilen der uͤbrigen, die daher entſpringende Noth- wendigkeit der Verſtellung, und immerwaͤhrenden Ver- larvung ſeiner wahren Abſichten, und tauſend derglei- chen phyſicaliſche und moraliſche Urſachen in unzaͤhliche betruͤgliche Geſtalten ausbilden ‒‒ er kannte, ſage ich, nach allen Erfahrungen, die er ſchon gemacht hatte, dieſen Unterſchied der Menſchen von dem was ſie ſeyn koͤnnten, und vielleicht ſeyn ſollten, bereits zu gut, um ſeinen Plan auf platoniſche Jdeen zu gruͤnden. Er war nicht mehr der jugendliche Enthuſtaſt, der ſich ein- bildet, daß es ihm eben ſo leicht ſeyn werde, ein groſ- ſes Vorhaben auszufuͤhren, als es zu faſſen. Die Athenienſer hatten ihn auf immer von dem Vorurtheil geheilt, daß die Tugend nur ihre eigene Staͤrke ge- brauche, um uͤber ihre Haͤſſer obzuſiegen. Er hatte ge- lernt, wie wenig man von andern erwarten kan; wie wenig N 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/199>, abgerufen am 22.11.2024.