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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
nach ein andächtiger Schwärmer, ein Platonist, ein
Republicaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wollüst-
ling; und war keines von allen, ob er gleich in ver-
schiedenen Zeiten durch alle diese Classen gieng, und in
jeder eine Nüance von derselben bekam. So wird es
vielleicht noch eine Zeitlang gehen -- Aber von seinem
Character, von dem was er würklich war, worinn
er sich unter allen diesen Gestalten gleich blieb, und was
zulezt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die
ganze Folge seiner Umstände davon abgeschieden seyn
wird, übrig bleiben mag -- davon kan dermalen die
Rede noch nicht seyn. Ohne also eben so voreilig über
ihn zu urtheilen, wie man gewohnt ist, es im täglichen
Leben alle Augenblike zu thun -- wollen wir fortfah-
ren, ihn zu beobachten, die wahren Triebräder seiner
Handlungen so genau als uns möglich seyn wird aus-
zuspähen, keine geheime Bewegung seines Herzens, welche
uns einigen Aufschluß hierüber geben kan, entwischen
lassen, und unser Urtheil über das Ganze seines mora-
lischen Wesens so lange zurükhalten, bis -- wir es ken-
nen werden.

Agathon.

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
nach ein andaͤchtiger Schwaͤrmer, ein Platoniſt, ein
Republicaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wolluͤſt-
ling; und war keines von allen, ob er gleich in ver-
ſchiedenen Zeiten durch alle dieſe Claſſen gieng, und in
jeder eine Nuͤance von derſelben bekam. So wird es
vielleicht noch eine Zeitlang gehen ‒‒ Aber von ſeinem
Character, von dem was er wuͤrklich war, worinn
er ſich unter allen dieſen Geſtalten gleich blieb, und was
zulezt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die
ganze Folge ſeiner Umſtaͤnde davon abgeſchieden ſeyn
wird, uͤbrig bleiben mag ‒‒ davon kan dermalen die
Rede noch nicht ſeyn. Ohne alſo eben ſo voreilig uͤber
ihn zu urtheilen, wie man gewohnt iſt, es im taͤglichen
Leben alle Augenblike zu thun ‒‒ wollen wir fortfah-
ren, ihn zu beobachten, die wahren Triebraͤder ſeiner
Handlungen ſo genau als uns moͤglich ſeyn wird aus-
zuſpaͤhen, keine geheime Bewegung ſeines Herzens, welche
uns einigen Aufſchluß hieruͤber geben kan, entwiſchen
laſſen, und unſer Urtheil uͤber das Ganze ſeines mora-
liſchen Weſens ſo lange zuruͤkhalten, bis ‒‒ wir es ken-
nen werden.

Agathon.
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[191/0193] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. nach ein andaͤchtiger Schwaͤrmer, ein Platoniſt, ein Republicaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wolluͤſt- ling; und war keines von allen, ob er gleich in ver- ſchiedenen Zeiten durch alle dieſe Claſſen gieng, und in jeder eine Nuͤance von derſelben bekam. So wird es vielleicht noch eine Zeitlang gehen ‒‒ Aber von ſeinem Character, von dem was er wuͤrklich war, worinn er ſich unter allen dieſen Geſtalten gleich blieb, und was zulezt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die ganze Folge ſeiner Umſtaͤnde davon abgeſchieden ſeyn wird, uͤbrig bleiben mag ‒‒ davon kan dermalen die Rede noch nicht ſeyn. Ohne alſo eben ſo voreilig uͤber ihn zu urtheilen, wie man gewohnt iſt, es im taͤglichen Leben alle Augenblike zu thun ‒‒ wollen wir fortfah- ren, ihn zu beobachten, die wahren Triebraͤder ſeiner Handlungen ſo genau als uns moͤglich ſeyn wird aus- zuſpaͤhen, keine geheime Bewegung ſeines Herzens, welche uns einigen Aufſchluß hieruͤber geben kan, entwiſchen laſſen, und unſer Urtheil uͤber das Ganze ſeines mora- liſchen Weſens ſo lange zuruͤkhalten, bis ‒‒ wir es ken- nen werden. Agathon.

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/193>, abgerufen am 18.04.2024.