Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
loben sind -- denn wie sollte es anders seyn, da sie in
ihrem zwanzigsten Jahre Weisheit und Tugend bereits
in eben dem Grade der Vollkommenheit besizen, den die
Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbesserun-
gen ihrer selbst kaum im sechzigsten erreicht haben? Aber
im Leben finden wir es anders. Desto schlimmer für
die, welche sich da immer selbst gleich bleiben -- Wir
reden nicht von Thoren und Lasterhaften -- die Besten
haben an ihren Jdeen, Urtheilen, Empfindungen,
selbst an dem worinn sie vortreflich sind, an ihrem
Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu verändern.
Und die Erfahrung lehrt, daß wir selten zu einer neuen
Entwiklung unsrer Selbst, oder zu einer merklichen
Verbesserung unsers vorigen innerlichen Zustandes ge-
langen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen,
welches eine falsche Farbe auf uns reflectiert, und unsre
wahre Gestalt eine Zeitlang verdunkelt. Wir haben
unsern Helden bereits in verschiedenen Situationen ge-
sehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umstände,
ein wenig anders als er würklich ist. Er schien zu
Delphi ein blosser speculativer Enthusiast; und man hat
in der Folge gesehen, daß er sehr gut zu handeln wußte.
Wir glaubten, nachdem er die schöne Cyane gedemüthi-
get hatte, daß ihm die Verführungen der Wollust
nichts anhaben könnten, und Danae bewieß, daß wir
uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange anste-
hen, so wird eine neue vermeynte Danae, welche seine
schwache Seite ausfündig gemacht zu haben glauben
mag, sich eben so betrogen finden. Er schien nach und

nach

Agathon.
loben ſind ‒‒ denn wie ſollte es anders ſeyn, da ſie in
ihrem zwanzigſten Jahre Weisheit und Tugend bereits
in eben dem Grade der Vollkommenheit beſizen, den die
Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbeſſerun-
gen ihrer ſelbſt kaum im ſechzigſten erreicht haben? Aber
im Leben finden wir es anders. Deſto ſchlimmer fuͤr
die, welche ſich da immer ſelbſt gleich bleiben ‒‒ Wir
reden nicht von Thoren und Laſterhaften ‒‒ die Beſten
haben an ihren Jdeen, Urtheilen, Empfindungen,
ſelbſt an dem worinn ſie vortreflich ſind, an ihrem
Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu veraͤndern.
Und die Erfahrung lehrt, daß wir ſelten zu einer neuen
Entwiklung unſrer Selbſt, oder zu einer merklichen
Verbeſſerung unſers vorigen innerlichen Zuſtandes ge-
langen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen,
welches eine falſche Farbe auf uns reflectiert, und unſre
wahre Geſtalt eine Zeitlang verdunkelt. Wir haben
unſern Helden bereits in verſchiedenen Situationen ge-
ſehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umſtaͤnde,
ein wenig anders als er wuͤrklich iſt. Er ſchien zu
Delphi ein bloſſer ſpeculativer Enthuſiaſt; und man hat
in der Folge geſehen, daß er ſehr gut zu handeln wußte.
Wir glaubten, nachdem er die ſchoͤne Cyane gedemuͤthi-
get hatte, daß ihm die Verfuͤhrungen der Wolluſt
nichts anhaben koͤnnten, und Danae bewieß, daß wir
uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange anſte-
hen, ſo wird eine neue vermeynte Danae, welche ſeine
ſchwache Seite ausfuͤndig gemacht zu haben glauben
mag, ſich eben ſo betrogen finden. Er ſchien nach und

nach
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0192" n="190"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
loben &#x017F;ind &#x2012;&#x2012; denn wie &#x017F;ollte es anders &#x017F;eyn, da &#x017F;ie in<lb/>
ihrem zwanzig&#x017F;ten Jahre Weisheit und Tugend bereits<lb/>
in eben dem Grade der Vollkommenheit be&#x017F;izen, den die<lb/>
Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbe&#x017F;&#x017F;erun-<lb/>
gen ihrer &#x017F;elb&#x017F;t kaum im &#x017F;echzig&#x017F;ten erreicht haben? Aber<lb/>
im Leben finden wir es anders. De&#x017F;to &#x017F;chlimmer fu&#x0364;r<lb/>
die, welche &#x017F;ich da immer &#x017F;elb&#x017F;t gleich bleiben &#x2012;&#x2012; Wir<lb/>
reden nicht von Thoren und La&#x017F;terhaften &#x2012;&#x2012; die Be&#x017F;ten<lb/>
haben an ihren Jdeen, Urtheilen, Empfindungen,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t an dem worinn &#x017F;ie vortreflich &#x017F;ind, an ihrem<lb/>
Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu vera&#x0364;ndern.<lb/>
Und die Erfahrung lehrt, daß wir &#x017F;elten zu einer neuen<lb/>
Entwiklung un&#x017F;rer Selb&#x017F;t, oder zu einer merklichen<lb/>
Verbe&#x017F;&#x017F;erung un&#x017F;ers vorigen innerlichen Zu&#x017F;tandes ge-<lb/>
langen, ohne durch eine Art von <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">Medium</hi></hi> zu gehen,<lb/>
welches eine fal&#x017F;che Farbe auf uns reflectiert, und un&#x017F;re<lb/>
wahre Ge&#x017F;talt eine Zeitlang verdunkelt. Wir haben<lb/>
un&#x017F;ern Helden bereits in ver&#x017F;chiedenen Situationen ge-<lb/>
&#x017F;ehen; und in jeder, durch den Einfluß der Um&#x017F;ta&#x0364;nde,<lb/>
ein wenig anders als er wu&#x0364;rklich i&#x017F;t. Er &#x017F;chien zu<lb/>
Delphi ein blo&#x017F;&#x017F;er &#x017F;peculativer Enthu&#x017F;ia&#x017F;t; und man hat<lb/>
in der Folge ge&#x017F;ehen, daß er &#x017F;ehr gut zu handeln wußte.<lb/>
Wir glaubten, nachdem er die &#x017F;cho&#x0364;ne Cyane gedemu&#x0364;thi-<lb/>
get hatte, daß ihm die Verfu&#x0364;hrungen der Wollu&#x017F;t<lb/>
nichts anhaben ko&#x0364;nnten, und Danae bewieß, daß wir<lb/>
uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange an&#x017F;te-<lb/>
hen, &#x017F;o wird eine neue vermeynte Danae, welche &#x017F;eine<lb/>
&#x017F;chwache Seite ausfu&#x0364;ndig gemacht zu haben glauben<lb/>
mag, &#x017F;ich eben &#x017F;o betrogen finden. Er &#x017F;chien nach und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nach</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0192] Agathon. loben ſind ‒‒ denn wie ſollte es anders ſeyn, da ſie in ihrem zwanzigſten Jahre Weisheit und Tugend bereits in eben dem Grade der Vollkommenheit beſizen, den die Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbeſſerun- gen ihrer ſelbſt kaum im ſechzigſten erreicht haben? Aber im Leben finden wir es anders. Deſto ſchlimmer fuͤr die, welche ſich da immer ſelbſt gleich bleiben ‒‒ Wir reden nicht von Thoren und Laſterhaften ‒‒ die Beſten haben an ihren Jdeen, Urtheilen, Empfindungen, ſelbſt an dem worinn ſie vortreflich ſind, an ihrem Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu veraͤndern. Und die Erfahrung lehrt, daß wir ſelten zu einer neuen Entwiklung unſrer Selbſt, oder zu einer merklichen Verbeſſerung unſers vorigen innerlichen Zuſtandes ge- langen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen, welches eine falſche Farbe auf uns reflectiert, und unſre wahre Geſtalt eine Zeitlang verdunkelt. Wir haben unſern Helden bereits in verſchiedenen Situationen ge- ſehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umſtaͤnde, ein wenig anders als er wuͤrklich iſt. Er ſchien zu Delphi ein bloſſer ſpeculativer Enthuſiaſt; und man hat in der Folge geſehen, daß er ſehr gut zu handeln wußte. Wir glaubten, nachdem er die ſchoͤne Cyane gedemuͤthi- get hatte, daß ihm die Verfuͤhrungen der Wolluſt nichts anhaben koͤnnten, und Danae bewieß, daß wir uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange anſte- hen, ſo wird eine neue vermeynte Danae, welche ſeine ſchwache Seite ausfuͤndig gemacht zu haben glauben mag, ſich eben ſo betrogen finden. Er ſchien nach und nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/192
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/192>, abgerufen am 22.11.2024.